Aufsichtsverantwortung


Mit fachlichem und rechtlichem Inhalt



 

Seminar Februar 2019 >Aufsichtsverantwortung<

Die gegenüber Kindern und Jugendlichen bestehende Aufsichtsverantwortung umschließt zwei Komponenten:

  • Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht: es geht darum, „Schaden“ zu vermeiden, der einem Kind/ Jug. zugefügt wird bzw. den ein Kind/ Jugdl. anderen zufügt bzw. sich selbst. Ein „Schaden“ ist allgemein definiert als ein „Nachteil, der durch Minderung oder Verlust an materiellen oder immateriellen Gütern entsteht“.
  • Befugnis der Gefahrenabwehr bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung des/r Kindes/Jugendlicher/n (= gegenwärtige Lebensgefahr oder gegenwärtige schwerwiegende Gesundheitsgefahr des/r Kindes/ Jugendlicher/n bzw einer anderen Person → es darf in ein Kindesrecht eingegriffen werden, wenn dies erforderlich, geeignet und verhältnismäßig ist. Bei diesem s.g.„rechtfertigenden Notstand“ (Strafrecht) liegt keine Kindesrechtsverletzung vor. sondern „zulässige Macht“ i.S. des angebotenen Prüfschemas zulässige Macht.

1. Maßnahmen zivilrechtlicher Aufsicht sind fachlich begründbar/ legitim

  • Zivilrechtliche Aufsicht, die darauf ausgerichtet ist, Schaden zu vermeiden, den ein/e/ Kind/ Jug. erleidet, verfolgt auch das Ziel, Eigenverantwortung zu lernen.
  • Zivilrechtliche Aufsicht, die darauf ausgerichtet ist, durch das/die/den Kind/ Jug. anderen zugefügten Schaden zu vermeiden, ist damit verbunden, Gemeinschaftsfähigkeit nahe zu bringen.

Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht wird folglich wahrgenommen durch:

  • Gespräch und/ oder Ermahnung
  • verbale oder aktive pädagogische Grenzsetzung (Eingriff in ein Kindesrecht/ z.B. Festhalten damit zugehört wird)

Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht erfordert im Einzelfall:

  •  Vorhersehbarkeit im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Schadens. Erforderlich ist eine Risikoanalyse: ist in der konkreten Situation für diese/s/n Kind/ Jugendlichen in dessen/deren Alter und Entwicklungsstufe sowie Vorgeschichte ein Schaden vorhersehbar?
  • Maßnahmen, die erforderlich sind, um der Schadensgefahr zu begegnen
  • Maßnahmen, die der/ dem PädagogIn zumutbar sind

Die Wahrnehmung der zivilrechtlichen Aufsichtspflicht bedeutet also, dass PädagogInnen auf der Grundlage ihres durch Sorgeberechtigte erteilten Erziehungsauftrags  alles für sie Zumutbare zu bedenken und zu veranlassen haben, was einer  vorhersehbaren Entwicklung entgegenwirkt, an deren Ende das/die/der Kind/ Jugendliche/r oder andere Personen durch ein/e/n Kind/ Jugendliche/n gesundheitlichen Schaden nehmen bzw. einen Vermögensschaden erleiden. Die Fragen, ob und wie die zivilrechtliche Aufsichtspflicht auszuüben ist, sind stets nur auf den konkreten Einzelfall bezogen beantwortbar.

Ein Beispiel: Ein Kind entfernt sich aus der Gruppe. Soll die Pädagogin die Gruppe allein lassen und das Kind verfolgen? Im Spannungsfeld „Aufsicht Kind – Aufsicht Gruppe“ ist die „Vorhersehbarkeit“ das wichtigste Entscheidungskriterium. Im Abwägungsprozess zwischen „Aufsichtsbedarf Kind“ und „Aufsichtsbedarf Gruppe“ sind die vorhersehba- ren jeweiligen Geschehensabläufe gegenüber zu stellen und im Sinne des damit verbundenen wahrscheinlichen Schadens zu gewichten. Dabei sind gesundheitliche Schäden gegenüber Sachschäden höherrangig. Erscheint das Gefahrenpotential auf Seiten des Kindes größer, ist dieses zu verfolgen und zugleich für die Gruppe die Notwendigkeit einer vorübergehenden Alleinbeschäftigung zu initiieren, wenn möglich getragen von delegierter Verantwortung auf ein insoweit belastbares Kind. Im anderen Fall entspräche der Verbleib in der Gruppe der Aufsichtspflicht, wenn möglich verbunden mit telefonischem Zuhilferufen einer/ s KollegIn, um das Kind zu verfolgen. Aufgrund der gebotenen Eilbedürftigkeit wird von der/ m PädagogIn ein schneller und daher potentiell fehlerhafer Abwägungsprozess erwartet.

Aufsichtspflicht in Kitas

Gerichtsbeschluss zum Umgang mit digitalen Medien/ „digitale Aufsichtsverantwortung“

2. Zusätzliche Hinweise zur Aufsichtsverantwortung:

  • Zu unterscheiden ist also pädagogisches Verhalten von Maßnahmen der Gefahrenabwehr bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung eines Kindes/ Jugendlichen. Letzteres schließt aber nicht aus, dass zugleich auch pädagogische Ziele verfolgt werden: die Pädagogin handelt z.B. – bedingt durch den primären Erziehungsauftrag – auch pädagogisch, wenn sie während des Festhaltens zugleich beruhigend auf das aggressive Kind einwirkt. Sie verfolgt dann nicht nur das Ziel der Gefahrenabwehr, vielmehr auch das Ziel, diese kommunikativ so einzubetten, dass sie das Kind nicht zu sehr verstört. Zudem ist Voraussetzung für jede Maßnahme der Gefahrenabwehr, dass eine pädagogische Beziehung besteht. Diese ist wesentlich mitbestimmend dafür, ob sich z.B. ein Kind bzw. ein/e Jugendliche/r festhalten lässt. Die vorangegangenen Beziehungserfahrungen mit der/m PädagogIn sind in der Situation der Gefahrenabwehr also von großer Bedeutung.
  • Ausgeschlossen muss sein, dass – weil auch ein pädagogisches Ziel verfolgt wird – Maßnahmen der Gefahrenabwehr (z.B. Postkontrolle) ausschließlich unter pädagogischen Aspekten betrachtet werden, quasi „pädagogisch importiert“. Im Gegenteil: da die rechtlichen Anforderungen der Gefahrenabwehr weiterreichen als die der fachlichen Legitimität, müssen die rechtlichen Voraussetzungen stets geprüft werden. „Der Zweck darf nicht die Mittel heiligen“. Es könnten Kindesrechte verletzt werden.
  • Pädagogik kann zwischen dem/ r Kind/ Jugendlicher/ n und dem/ r PädagogIn ein pädagogisches Band“ ermöglichen, das Maßnahmen zivilrechtlicher Aufsichtspflicht oder der Gefahrenabwehr minimiert, im Einzelfall sogar entbehrlich macht.
  • Sofern in einer vorhersehbaren Gefahrenlage PädagogInnen ihre primäre pädagogische Verantwortung nicht wahrnehmen und sich darauf einrichten, in der weiteren Entwicklung auf eine akute Gefahr mittels Gefahrenabwehr zu reagieren, ist dies nicht nur fachlich unbegründbar und illegitim, vielmehr auch illegal.

3. Maßnahmen der Gefahrenabwehr: in akut gefährlichen Situationen der Eigen- oder Fremdgefährdung eines/r Kindes/Jugendlichen kommen aufgrund der Eilbedürftigkeit  erforderliche, „verhältnismäßige“ und „geeignete“ Maßnahmen in Betracht. „Verhältnismäßig“ ist Verhalten, sofern keine andere für das Kind/ die/ den Jugendliche/n weniger gravierende Maßnahme in Betracht kommt. Wenn z.B. Ausweich- und Abwehrtechnik möglich ist, ist Festhalten „unverhältnismäßig“ und rechtswidrig. “Geeignet” ist Verhalten in der Gefahrenabwehr, wenn es aus Sicht eines (fiktiv) neutralen Beobachters in der Lage ist, der Gefährdung zu begegnen und auch nur dann, wenn die Situation mit dem betroffenen Kind/ Jugendlichen pädagogisch aufgearbeitet wird. Letzteres bedingt, dass besondere pädagogische Konzepte zu entwickeln sind, um mit Gefahrenabwehr- Maßnahmen verbundene negative Nebenwirkungen zu neutralisieren. Die pädagogische Aufarbeitung wird in der Regel nachträglich erfolgen, freilich so schnell wie möglich. Die „Eignung“ des Verhaltens fehlt darüber hinaus z.B. auch dann, wenn ein um sich schlagendes Kind auf dem Boden festgehalten wird, das insoweit durch sexuellen Missbrauch traumatisiert ist. In dieser Situation sind andere Formen der Gefahrenabwehr zu überlegen. Ansonsten wäre das Verhalten rechtswidrig.

Die akute Eigen- oder Fremdgefährdung erfordert die gegenwärtige Lebensgefahr oder gegenwärtige schwerwiegende Gesundheitsgefahr eines/r Kindes/ Jugendlichen oder einer anderen Person.

Bei einer akuten Eigen- oder Fremdgefährdung des/ r Kindes/ Jugendlichen muss die Reaktion (z.B. Festhalten am Boden bei dem Angriff auf ein anderes Kind)

  • erforderlich
  • geeignet
  • und „verhältnismäßig“ sein, das heißt dass keine weniger intensiv in das Kindesrecht eingreifende Maßnahme in Betracht kommt.

4. Definition der Gefahrenstufen:

  • Gefahr im Rahmen zivilrechtlicher Aufsichtspflicht bedeutet hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadens. Ein möglicher Schaden (latente Gefahr) reicht nicht.
  • Akute Eigen- oder Fremdgefährdung im Rahmen der Gefahrenabwehr (z.B. Notwehr) bedeutet hohe Wahrscheinlichkeit eines Schadens.

5. Übersicht „Doppelauftrag Erziehung und Gefahrenabwehr“

Freiheitsentzug


Erziehen im Freiheitsentzug: geht das?


Forschung

Hoops / Permien DJI


I. Neufassung §1631b II BGB: „freiheitsentziehende (Einzel) Maßnahmen“

§1631b II BGB – freiheitsentziehende Maßnahmen

A. Vorbemerkung

Was ist unsere fachliche Antwort auf die zunehmende „Verrechtlichung der Pädagogik“: ein „unbestimmter Rechtsbegriff Kindeswohl“ mit Beliebigkeitsgefahr, ein „Gewaltverbot in der Erziehung“, wobei – Schlagen ausgenommen – der Umfang „entwürdigender Maßnahmen“ unklar ist, nun (ab 2017) ein „Genehmigungsvorbehalt für freiheitsentziehende Maßnahmen“, der von Richtern sehr unterschiedlich angewendet wird? Fangen wir an, die fachliche Legitimation erzieherischen Verhaltens für krisenhafte Situationen des päd. Alltags orientierungshalber zu beschreiben und damit den rechtlichen Erziehungsgrenzen fachliche voranzustellen.

B. Gesetzestext „Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen“

(1) Genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Unterbringung „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.“

(2) Genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Maßnahmen „Die Genehmigung des Familiengerichts ist auch erforderlich, wenn dem Kind, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen werden soll. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend.

Bisher – nach ca. 4 Jahren des Inkrafttretens des neuen § 1631b II BGB – hat die Jugendhilfe (nach Auskunft zuständiger Amtsrichter) kaum Notiz davon genommen, gibt es kaum gerichtliche Genehmigungsanträge (im Unterschierd z.B. zur Behindertenhilfe), Es muss also leider von einer erheblichen Grauzone rechtsproblematischer Praxis ausgegangen werden. Daher vorab ein Formularantrag, den Einrichtungen der Erziehungshilfe in Anspruch nehmen können: Genehmigung nach 1631b II – Antrag

C. Abgrenzung fachlich begründbarer/ legitimer Freiheitsbeschränkung (FBM) von „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (FEM) der „Gefahrenabwehr“

FEM mit richterlicher Genehmigung, die die Einrichtung initiiert und Sorgeberechtigte beantragen, liegen nach § 1631b II BGB nur bei „nicht altersgerechtem“ Handeln vor. Da nur „altersgerechtes Handeln“ fachlich legitim sein kann, sind FEM stets fachlich illegitim und unterliegen den rechtlichen Anforderungen der „Gefahrenabwehr. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass die Maßnahme über „einen längeren Zeitraum“ (entsprechend der Rechtsprechung länger als 30 Minuten) andauert oder kurzfristiger aber regelmäßig durchgeführt wird.

Folgendes Vorgehen wird empfohlen:

  1. Sobald eine FEM einmalig durchgeführt wird (sie ist nicht planbar), ist die Wiederholungsgefahr i.S. hinreichender Wahrscheinlichkeit prognostisch zu bewerten. Ist Wiederholungsgefahr anzunehmen und ist dabei von einem längeren Zeitraum als 30 Minuten oder – bei kürzerem Zeitraum – von Regelmäßigkeit auszugehen, sind unverzüglich  die Eltern/ Sorgeberechtigten zu informieren, damit sie die richterliche Genehmigung wegen voraussichtlich notwendiger FEM einholen. Der Richter legt zugleich den Zeitraum der Genehmigung fest. Bei Eilbedürftigkeit ist das zuständige Amtsgericht vorab zu informieren.
  2. FEM werden nach § 1631b II BGB unter folgenden Voraussetzungen richterlich genehmigt: sie müssen „zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung erforderlich“ sein und „der Gefahr kann nicht auf andere Weise begegnet werden“.
  3. Stellt sich nach einer Prognose von FBM heraus, dass tatsächlich eine FEM erforderlich wird, ist der Fehler durch eine erneute Prognose zu korrigieren, die dann die Wahrscheinlichkeit weiterer FEM und damit die Notwendigkeit einer richterlichen Genehmigung beinhalten kann.
  4. Das nächtliche Abschließen der Wohnungs-/ Haustür erfordert, um FEM auszuschließen, eine erreichbare Person, die bei Anfrage die Tür öffnen kann. Sie hat dabei freilich die Erfordernisse der Aufsichtspflicht zu beachten.
  5. Anmerkung: bei einer auch nur unter den Voraussetzungen der „Gefahrenabwehr“ rechtlich zulässigen „geschlossenen Unterbringung“ (GU mit richterlicher Genehmigung) besteht die fachliche Herausforderung darin, eine Konzeption mit pädagogischem Zugang zum Kind / Jugendlichen zu entwickeln. GU grenzt sich von FEM dadurch ab, dass es um eine dauerhafte Maßnahme geht, deren Ende nicht absehbar ist.

Beispiele für FBM unter dem Vorbehalt der pädagogischen Indikation des Einzelfalls:

Ein Kind auf das Zimmer schicken, damit es sich dort Gedanken zu einem vorherigen Regelverstoß macht.

Ein Kind festhalten, um ein noch zielführendes pädagogisches Gespräch fortzuführen (bis maximal 30 Minuten).

Beispiele von FEM:

– Einen jungen Menschen länger als 30 Minuten oder regelmäßig ohne Begleitung in einem Zimmer wegschließen

– Abschließen einer Gruppen- oder Haustür länger als 30 Minuten oder regelmäßig; gleiches gilt, wenn am Boden fixiert wird.

In diesem Zusammenhang der Hinweis, dass jeder fachlich nicht begründbare Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit eines jungen Menschen als fachlich illegitim einzustufen ist, auch unterhalb einer dreißigminütigen Dauer.  

Entscheidend ist die Abgrenzung Freiheitsbeschränkungg von Freiheitsentzug

D. Wann liegen „freiheitsentziehende Maßnahmen“ vor

Das Bundesverfassungsgericht (2018) legt für Fixierungen eine „ungefähre“ Messlatte von 30 Minuten an: „von einer kurzfristigen Maßnahme ist in der Regel auszugehen, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet“. Ab dieser Grenze läge ein richterlich- genehmigungspflichtiger Freiheitsentzug vor. Im Sinne der Handlungssicherheit wird empfohlen, diese Grenze insgesamt auf die Abgrenzung Freiheitsbeschränkung  – Freiheitsentzug anzuwenden. Hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/07/rs20180724_2bvr030915.html

Die Problematik „freiheitsentziehender Maßnahmen“ zeigt sich – neben pädagogischen Erwägungen – in der möglichen Machtspirale:

Die Stufen der Gefahrensituation


II. HANDLUNGSSICHERHEIT IN DER JUGENDHILFE ?

Was ist unsere fachliche Antwort auf die zunehmende „Verrechtlichung der Pädagogik“: ein „unbestimmter Rechtsbegriff Kindeswohl“ mit Beliebigkeitsgefahr, ein „Gewaltverbot in der Erziehung“, wobei – Schlagen ausgenommen – der Umfang „entwürdigender Maßnahmen“ unklar ist, nun ein „Genehmigungsvorbehalt für freiheitsentziehende Maßnahmen“, der von Richtern sehr unterschiedlich angewendet wird? Fangen wir an, die fachliche Legitimation erzieherischen Verhaltens für krisenhafte Situationen des päd. Alltags orientierungshalber zu beschreiben und damit den rechtlichen Erziehungsgrenzen fachliche voranzustellen.

Hauptsächlich in der Jugendhilfe ist mit dem Thema des Freiheitsentzugs eine gewisse Handlungsunsicherheit verbunden, in enger Verknüpfung mit einer überwiegend auf der Basis päd. Haltung geführten „Pro – Contra Diskussion“ (zuletzt Fachtagung 15.9.2015/ Dresden/ „Geschlossene Unterbringung in der Kinder- u. Jugendhilfe Nein !“/ veranstaltet vom Deutschen Kinderschutzbund). Dies führt zu „Drehtüreffekten“ mit aufnahmeverpflichteter stationärer Kinder- u. Jugendpsychiatrie und ist typischerweise nur in der Jugendhilfe anzutreffen. In kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken besteht hingegen kein Fachstreit über die Eignung geschlossener Stationen, legt doch der Gesetzgeber in speziellen Unterbringungsgesetzen eine rechtliche Basis fest (s.g. „Zwangsthe- rapie“).

Zum Thema „Handlungssicherheit“ ein Beispiel von vielen:

Ein Landesjugendamt „bietet an“, dass die Einrichtung … „wenn die Eltern/ Sorgeberechtigten und das Kind zustimmen, bei abgeschlossener Eingangstür Kinder ohne Gerichtsbeschluss betreuen dürfe“. Es meint: „wenn ein Kind jederzeit rausgehen könne und ihm ein/e MitarbeiterIn aufschließt, ist das rechtens.“

Entscheidend ist die Abgrenzung zwischen Freiheitsbeschränkung und richterlich genehmigungspflichtigem Freiheitsentzug (siehe bereits oben Ziffer I. C)

1. Bewertung nach dem „Prüfschema zulässige Macht“ / nachträgliches Bewerten einer schwierigen Situation

2. Bewertung nach dem „Prüfschema zulässige Macht“ / Bewerten einer vorhersehbaren schwierigen Situation

Freiheitsbeschränkungen sind in den „Prüfschemata zulässige Macht“ im Rahmen der dortigen ersten Frage i.d.R. pädagogisch begründbar: sie sind geeignet, ein pädagogisches Ziel zu verfolgen. Sind also Freiheitsbeschränkungen pädagogisch begründbar, sind insoweit insbesondere pädagogische Vereinbarungen möglich und sinnvoll. Ausnahmsweise ist aber bei Freiheitsbeschränkungen eine pädagogische Eignung auszuschließen, z.B. im vorbeschriebenen Beispiel der verschlossenen Eingangstür mit der Möglichkeit des „Öffnens auf Nachfrage“. In solchen Fällen kann  beim jungen Menschen ein Isolationsgefühl entstehen, das zur Erreichung pädagogischer Ziele ungeeignet ist. Pädagogisch betrachtet sind also die Wirkungen des Abschlusses über Tag problematisch (Bemerkung: ein Landesjugendamt sollte nicht nur über die rechtliche Komponente beraten). Wie gesagt, solche Freiheitsbeschränkung kann – auf die Sicht des Kindes/Jug. kommt es ja vorrangig an – als „Isolation gegenüber der Außenwelt“ empfunden werden. Nach dem Prüfschema (Frage 1) ist es dann nicht darstellbar, den Türverschluss als zielführende pädagogische Maßnahme einzustufen. Es würde sich vielmehr – wie auch bei Freiheitsentzug – um eine nur unter den Voraussetzungen der Gefahrenabwehr zulässige Maßnahme mit richterlicher Genehmigung handeln (§ 1631b BGB). Der Vorschlag des Landesjugendamtes erscheint mithin insoweit fachlich nicht begründbar und im Ergebnis auch rechtswidrig, es sei denn, es liegt im Einzelfall eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vor, die von dem Kind/ der/m Jugendliche/n ausgeht.

Da Freiheitsentzug in “geschlossenen Gruppen” pädagogisch nicht begründbar ist, sollte die seit langem andauerende “PRO – CONTRA – Diskussion” als überflüssig betrachtet werden: Freiheitsentzug ist ein rechtliches Instrument der Gefahrenabwehr, bezogen auf Eigen- und Fremdgefährdung.

Die die entscheidende Frage lautet nicht, ob Freiheitsentzug pädagogisch verantwortbar ist, vielmehr sind folgende Fragen zu stellen:

  • Welches pädagogisches Konzept ist unter den Rahmenbedingungen des Freiheitsentzugs geeignet?
  • Wie hat sich ein Team unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs fachlich und organisatorisch aufzustellen, um seine pädagogische Verantwortung wahrzunehmen?

III. FREIHEITSENTZUG – JUGENDHILFE- / EINGLIEDERUNGSHILFEPROFIL

Im Projekt Pädagogik und Recht wird die Position vertreten, dass – neben den rechtlichen Anforderungen des § 1631b BGB – der Freiheitsentzug in der Jugendhilfe und Eingliederungshilfe behinderter Kinder/ Jugendlicher ein spezielles Profil benötigt, das von Fachverbänden formuliert wird.

Das Profil sollte umfassen:

  • eine Konkretisierung der Voraussetzungen des § 1631b BGB
  • eine Altersuntergrenze für Freiheitsentzug
  • Regelungen zum Inhalt der Kindesrechte in Durchführung des Freiheitsentzugs – solche sind im Jugendstrafvollzug gesetzlich geregelt, nicht jedoch in der Jugendhilfe bzw. Eingliederungshilfe.

Das Profil würde die „Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug“ ergänzen.

Regeln der Vereinten Nationen

Das Projekt unterbreitet - insbesondere angesichts bestehender Gesetzeslücken - folgenden, noch auszuformulierenden Vorschlag
  • Freiheitsentzug ist ein Instrument, um Eigen- oder Fremdgefährdungen der/s Minderjährigen zu begegnen, eine pädagogische Indikation ist ausgeschlossen. Aufgrund des Aufsichtsrahmens bedarf es aber eines besonderen pädagogischen Konzepts.
  • Freiheitsentzug kommt nur bei Vorliegen einer Lebens- oder erheblichen Gesundheitsgefahr in Betracht.
  • Die insbesondere im Hinblick auf richterliche Genehmigung erhebliche Abgrenzung zur pädagogisch indizierten Freiheitsbeschränkung („Menschen statt Mauern“) ist wie folgt umzusetzen: Freiheitsbeschränkung ist das Erschweren oder der kurzfristige (maximal wenige Stunden) Ausschluss der Bewegungsfreiheit, Freiheitsentzug der längerfristige.
  • Die Altersuntergrenze für Freiheitsentzug sollte 12 Jahre sein, keinesfalls kommt Freiheitsentzug unter 10 Jahren in Betracht.
  • In der Durchführung des Freiheitsentzugs sind die Inhalte der Kindesrechte zu definieren.

IV. FREIHEITSENTZUG – REGELN DER VEREINTEN NATIONEN

Zum Auftrag der Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug, eine Altersuntergrenze des Freiheitsentzugs gesetzlich zu definieren, ist Folgendes festzuhalten: mangels solcher Regelung in Deutschland sollte bei Kindern, die das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Erziehung unter freiheitsentziehenden Bedingungen nicht praktiziert werden. Bei Kindern vor Vollendung des 10. Lebensjahres ist Freiheitsentzug auszuschließen. Ausgenommen hiervon ist auf Grund von Krankheit oder Behinderung individuell praktizierter Freiheitsentzug, z.B. in der Kinder – und Jugendpsychiatrie oder in Form von Fixierungen bei Mehrfachbehinderung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. In diesen Fällen sind Eigen- oder Fremdgefährdungen altersunabhängig relevant. Ansonsten ist bei Kindern unter zehn Jahren von einem überschaubaren Eigen- bzw. Fremdgefährdungspotential auszugehen, dem durchaus mittels anderer Aufsichtsinstrumente als Freiheitsentzug begegnet werden kann, z.B. durch freiheitsbeschränkende pädagogische Settings.


V. „RHEINISCHES MODELL“

Hier noch das so genannte Rheinisches Modell des Landesjugendamtes Rheinland mit Fachposition und Mindeststandards für eine Betriebserlaubnis zur Kenntnis und zum Ausdrucken, in Vorlauf des Projekts Pädagogik und Recht in den Jahren 2005 bis 2007 entscheidend gestaltet.

Das „Rheinische Modell“wurde am 11.11.2005 einstimmig im Landschaftsausschuss des Landschaftsverbandes Rheinland beschlossen. Entscheidend hat zu der diesem Beschluss zugrunde liegenden einheitlichen politischen Meinungsbildung die Idee „Pädagogik und Recht“ beigetragen. Die Unterscheidung zwischen primärem pädagogischen Auftrag und dem zivilrechtlichem Auftrag der Aufsicht/ Gefahrenabwehr hat ausschließlich haltungsorientierte politische Debatten erspart. Die Zuordnung des Freiheitsentzugs als Instrument der Abwehr von Eigen- oder Fremdgefahren, die von der/m Minderjährigen ausgehen, hat also zu einer Versachlichung geführt.

Neben dem „Rheinischen Modell“ als Mindeststandards zur Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII ist auf die Fachposition des Landesjugendamtes hinzuweisen, die der Landesjugendhilfeausschuss auf der Grundlage eines Expertenhearings am 13.3.2007 beschlossen hat, ebenfalls einstimmig.

Zum Abschluss noch eine DJI- Studie zum Thema „Freiheitsentzug und dessen Wirksamkeit“  DJi.

Macht- Machtmissbrauch


Stop dem Machtmissbrauch !


 

VERGANGENHEIT AUFARBEITEN UND KONSEQUENZEN ZIEHEN – URSACHE VON MACHTMISSBRAUCH IN DER ERZIEHUNG BESTEHT HEUTE NOCH: GRENZE FACHLICH LEGITIMER ERZIEHUNG UNKLAR!

Massive Kinderrechtsverletzungen in der Vergangenheit:
 
1. Machtmissbrauch an ehemaligen Heimkindern:
 
2. Machtmissbrauch an „Verschickungskindern“:
 
Abgesehen davon, dass die Intensität des Machtmissbrauchs in der Vergangenheit gravierender war, stellt das Projekt Pädagogik und Recht/ https://www.paedagogikundrecht.de/ heute fest, dass sich dem Grunde nach nichts verändert hat. Nach wie vor besteht keine Orientierung, anhand welcher objektivierbarer Voraussetzung Erziehung von Machtmissbrauch abgegrenzt wird. Zwar ist seit 2000 „Gewalt“ in der Erziehung gesetzlich geächtet, jedoch wurde dieses „Gewaltverbot“ bisher nicht konkretisiert: wann liegt eine s.g. „entwürdigende Maßnahme“ vor?
 
Der Wegfall des „Züchtigungsrechts“ definiert zwar Straftaten wie Körperverletzung als Machtmissbrauch, wann aber das Handeln von Pädagog*innen außerhalb der Strafbarkeit fachlich illegitim ist, bleibt offen. Wann stellt sich z.B. das Festhalten eines Kindes als Machtmissbrauch dar? Darf ich in dieser Weise ein pädagogisches Gespräch fortführen, das ein Kind vorzeitig beenden will?
 
Der Gesetzgeber ist gefragt: Wann folgt dem 1. Schritt des „Gewaltverbots in der Erziehung“ der 2. Schritt der Politik, in der Erziehung den „Gewalt“begriff und damit den „unbestimmten Rechtsbegriff Kindeswohl“ zu konkretisieren? „KINBDESRECHTE IM GRUNDGESETZ“ zu verankern, ist nur ein Einstieg in die Grauzone mangelhafter Abgrenzung der Erziehung von Machtmissbrauch. Wichtiger ist es, im Bürgerlichen Gesetzbuch die „Unverletzbarkeit des Kindesrechts auf fachlich begründbares Handeln in der Erziehung“ einzufügen, zumindest für die professionelle Erziehung der Jugendhilfe im Sozialgesetzbuch VIII. Es wäre damit klargestellt, dass Handeln nur dann „fachlich legitim“ und keine „Gewalt“ ist, wenn es aus der Sicht einer gedachten neutralen Fachkraft geeignet ist, ein pädagogisches Ziel der „Eigenverantwortlichkeit“ bzw. der „Gemeinschaftsfähigkeit“ zu verfolgen (Perspektivwechsel).

I. WAS BEDEUTEN „MACHT“ UND „GEWALT“ ?

1. „Macht“ ist gleichzusetzen mit der Verantwortung, die im Zusammenhang mit der Erziehung wahrgenommen wird,

  • als pädagogische Macht:
    1. Zuwendung, Überzeugung, Vorbild, Achtsamkeit, Wertschätzung
    2. Eingriff in ein Kindesrecht durch pädagogische Grenzsetzung
  • oder als Aufsichtsmacht: Maßnahme in der Aufsichtsverantwortung, z.B. Abwehr akuter Gefahr, die vom Kind/ Jugendlichen ausgeht.

2. „Machtmissbrauch“ (Ziffer II) bedeutet „Gewalt“ im Sinne §1631II BGB, stellt sich als „entwürdigende Maßnahme“ im Kontext des seit 2001 geltenden „Gewaltverbots in der Erziehung“ dar, somit auch als Kindesrechtsverletzung


II. WAS BEDEUTET „MACHTMISSBRAUCH“ ?

Wann begeht der Mensch Machtmissbrauch?

Hierzu dieses Projekt Pädagogik und Recht: Machtmissbrauch liegt vor, wenn Macht ohne nachvollziehbare ethisch vertretbare Begründung ausgeübt wird, in ausschließlich subjektiver Begründung „der Zweck die Mittel heiligt“. Verlässt der Mensch ethische Prinzipien begeht er Machtmissbrauch.

Im Einzelnen:

1. In der Erziehung wird oft vom s.g. „natürlichen Machtüberhang“ gesprochen. Dabei ist davon auszugehen, dass „Macht“ mit „Verantwortung“ gleichgesetzt ist, das heißt Angebote/ Einrichtungen Verantwortung auf der Grundlage eines Erziehungsauftrags Sorgeberechtigter wahrnehmen. Wir betonen das, weil wir päd. Fachkräfte erleben, die den Begriff „Macht“ meiden, weil er negativ belegt sei.

In unserem Sinn ist „Machtmissbrauch“ in der Erziehung = nicht verantwortbares Wahrnehmen des Erziehungsauftrags. Das wiederum würde bedeuten, dass das Handeln nicht nachvollziehbar ein päd. Ziel verfolgt und insoweit nicht begründbar ist = illegitim, weil weder das Ziel der „Eigenverantwortlichkeit“ noch der „Gemeinschaftsfähigkeit“ (§ 1 SGB VIII) nachvollziehbar verfolgt wird. In diesem Kontext ist freilich auch zu bewerten, ob der Erziehungsauftrag selbst als „Machtmissbrauch“ einzustufen ist: diese Bewertung folgt den selben Prinzipien, an denen sich das Handeln der Beauftragten oientiert.

2. Wann liegt in der Jugend-/ Behindertenhilfe, in Schulen/ Internaten und in der stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie „Machtmissbrauch“ vor? Hierzu bietet das Projekt PädagogInnen und Behörden praxisgerechte Antworten:

Machtmissbrauch liegt in unterschiedlicher Form vor:

a.  Verhalten der PädagogInnen ist bei Grenzsetzungen „machtmissbräuchlich“,

  • wenn es zwar fachlich begründbar ist, d.h. das Verfolgen eines pädagogischen Ziels erkennen lässt, jedoch die Zustimmung Sorgeberechtigter fehlt und keine akute Eigen- odere Fremdgefährdung des/r Kindes/Jugendlicher/n vorliegt, auf die „geeignet“ und „verhältnismäßig“ reagiert wird (Bemerkung: in Einrichtungen der Erziehungshilfe ist beim Umgang mit Taschengeld die Zustimmung des/r Kindes/ Jugendlichen erforderlich).
  • wenn es fachlich nicht begründbar ist und keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung des/r Kindes/Jugendlicher/n vorliegt, auf die „geeignet“ und „verhältnismäßig“ reagiert wird.
  • wenn es sich als Kindeswohlgefährdung darstellt.
  • wenn es als strafbar einzustufen ist.

b.  Machtmissbrauch in Behörden („Willkürverbot“) liegt in folgenden Fällen vor:

  • Eine Entscheidung ist fachlich nicht begründbar, d.h. sie beinhaltet keine nachvollziehbare Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern/ Jugendlichen, oder aber sie entspricht nicht der Rechtsordnung.
  • Eine Entscheidung verletzt Art. 3 CRC (UN Kinderrechtskonvention), d.h. sie ist nicht vorrangig auf das Kindeswohl ausgerichtet. Letzteres ist der Fall, wenn Eigeninteressen im Vordergrund stehen oder sachfremde Erwägungen.
  • Eine Entscheidung stellt sich als „kindeswohlgefährdend“ oder als Straftat dar.

III. PROJEKT – GRUNDSÄTZE – „Kategorischer Imperativ der Pädagogik“

Wir sprechen vom „Kategorischen Imperativ der Pädagogik“: „Entscheide und verhalte dich so, dass du einer für Alle geltenden Maxime fachlicher Begründbarkeit entsprechen kannst“.

Daraus leiten wir diese 10 Grundsätze ab:

1. Wir gestalten eine Brücke im Spannungsfeld Pädagogik – Kindesrechte.

2. Unser Ziel: Stärkung des Kindesschutzes und der Handlungssicherheit durch fachlich legitimes/ begründbares Handeln der Pädagog*nnen in schwierigen Situationen des Erziehungsalltags sowie durch fachlich und rechtlich nachvollziehbare Entscheidungen zuständiger Behörden (Jugendamt/ Landes-, Schulaufsicht).

3. Fachlich legitim/begründbar ist das Handeln, das aus der Sicht einer gedachten neutralen Fachkraft (Perspektivwechsel) geeignet ist, ein pädagogisches Ziel der Eigenverantwortlich- keit und/ oder der Gemeinschaftsfähigkeit zu verfolgen (§ 1 Sozialgesetzbuch VIII/ SGB VIII). Bei einer physischen Grenzsetzung (z.B. am Arm fassen, um ein pädagogisches Gespräch fortzuführen) ist zusätzlich die Frage zu stellen, ob das Handeln „angemessen“ ist, das heißt geeignet und verhältnismäßig. „Verhältnismäßig“ bedeutet, dass keine andere physische Grenzsetzung in Betracht kommt, die weniger intensiv in das Kindesrecht eingreift. Und: nur wenn eine vorherige verbale Grenzsetzung zeitlich unmöglich oder erfolglos war, ist die physische Grenzsetzung „angemessen“, das Handeln fachlich legitim/begründbar.

4. Ist Handeln fachlich legitim/begründbar, entspricht es dem Kindeswohl. Wir verbinden dies mit dem Anspruch bestmöglicher Wirksamkeit: mit der prognostischen Wahrscheinlichkeit, dass ein pädagogischen Ziel erreicht wird.

5. Wir stellen fest, dass die Erziehungswissenschaft und die Rechtsordnung derzeit keine Antworten bieten, welches Handeln dem Kindeswohl entspricht. Wir konkretisieren daher den „unbestimmten Rechtsbegriff Kindeswohl“, indem wir die Pädagogik und das Recht in diesem Kernsatz integrativ verbinden: in der Erziehung kann nur fachlich legitimes/begründbares Handeln rechtmäßig sein.

6. Wir stehen mit diesem Kernsatz im Spannungsfeld Pädagogik – Kinderrechte für ein neues Kindeswohlverständnis der Pädagog*innen und Behörden. Zur Abgrenzung fachlich legitimen/ begründbaren Handelns von Machtmissbrauch (unzulässiger Gewalt) bieten wir fachlich- rechtlich integrative Prüfschemata an, die auch in familiärer Erziehung unterstützen können.

7. Wir erkennen einen gesellschaftlichen Doppelauftrag in der Erziehung, unterscheiden Zwang als pädagogische Grenzsetzung und Zwang im Rechtsinstitut der „Gefahrenabwehr“.

8. Die Gefahrenabwehr beinhaltet die Befugnis, bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung des/r Kindes/Jugendlichen in ein Kindesrecht einzugreifen, z.B. bei einem körperlichen Angriff auf andere durch Festhalten in das Recht der körperlichen Unversehrtheit. Von „akuter Eigen- oder Fremdgefährdung“ ist auszugehen bei gegenwärtiger Lebensgefahr oder schwerwiegender Gesundheitsgefahr des/r Kindes/Jugendlichen selbst oder einer anderen Person. Die Reaktion darauf muss geeignet und verhältnismäßig sein („rechtfertigender Notstand“ im Strafrecht). Eine Eignung ist erst mit pädagogischer Aufarbeitung der Gefahrenabwehr- Situation gegeben und „Verhältnismäßigkeit“ setzt voraus, dass keine andere Maßnahme in Betracht kommt, die weniger intensiv in das Kindesrecht eingreift. Im Ergebnis liegt im Falle der rechtlich zulässigen Gefahrenabwehr keine Kindesrechtsverletzung vor.

9. In der Abgrenzung zum Machtmissbrauch/ Gewalt halten wir die Reflexion der Pädagog*innen und zuständigen Behörden in drei aufeinander aufbauenden Stufen für unentbehrlich:

– erste Stufe der persönlichen Haltung: Welches Handeln entspricht meiner pädagogischen Haltung?

– zweite Stufe der fachlichen Legitimität: ist mein Handeln geeignet, ein pädagogisches Ziel der Eigenverantwortlichkeit und/oder Gemeinschaftsfähigkeit zu verfolgen?

– dritte Stufe der rechtlichen Zulässigkeit: liegt die Zustimmung Sorgeberechtigter vor, sei es weil für sie vorhersehbar gehandelt wird oder sie ausdrücklich zustimmen? Im Falle fachlicher Illegitimität lautet die Frage: wird auf eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung des/r Kindes/ Jugendlichen reagiert (Gefahrenabwehr)? Ist dies zu bejahen, ist das Handeln auch ohne die Zustimmung Sorgeberechtigter rechtmäßig.

10. Zur Stärkung des Kindesschutzes und der Handlungssicherheit der Pädagog*innen sowie der zuständigen Behörden empfehlen wir Handlungsleitsätze, die in einem „Fachdiskurs legitimes Handeln“ entwickelt werden, ausgerichtet auf Grenzsetzungen in schwierigen Situationen des Erziehungsalltags. Diese sollen im Rahmen fachlicher Legitimität und rechtlicher Zulässigkeit Orientierung bieten, unter anderem in der Erziehungshilfe des SGB VIII.

Die genannten Grundsätze basieren auf den Erziehungsgrenzen, wie diese bereits Kant beschrieben hat: „die Einschränkung der Freiheit ist nur in dem Maße gerechtfertigt, wie sie sich im Interesse zukünftiger Freiheit (Selbständigkeit) als erforderlich erweist.“


IV. MACHTMISSBRAUCH – BEGÜNSTIGENDE ASPEKTE

Von folgenden Machtmissbrauch begünstigenden Aspekten ist bei Anbietern auszugehen:

V. UND JUGENDHILFE- BEHÖRDEN ?

Vorweg die Position einer inzwischen selbständigen Pädagogin: „Ich habe auf der anderen Seite gearbeitet, im stationären und ambulanten Bereich. Natürlich habe ich zum einen hier festgestellt, dass es vielfach in Jugendämtern a) keine Kritierien gab und b) diese sehr individuell waren und c) Entscheidungen von eigenen Themen durchflutet waren. Dass hier Handlungsunsicherheiten aufkommen und es zu rechtproblematischen Entscheidungen kam bzw. kommt – das kann ich nur bestätigen.“

Das Rechtsstaatsprinzip ist in der Landesjugendamt – Einrichtungsaufsicht gefährdet !

Wollen Landesjugendämter einen Beitrag zu gestärkter Handlungssicherheit und damit zum Kindesschutz leisten? Das erfordert in den Entscheidungen weniger Subjektivität, stattdessen Nachvollziehbarkeit: Reduzierung der Beliebigkeitsgefahr bei Kindeswohl- Interpretationen. Da Landesjugendämter keiner fachkompetenten externen Aufsicht unterliegen, ist eine dementsprechend selbstkritische Haltung Grundvoraussetzung für eine qualfizierte Aufgabenwahrnehmung.

1. LANDESJUGENDÄMTER MÜSSEN QUALITÄTSDIALOGE ANBIETEN

ES ENTSPRICHT NICHT DEM RECHTSSTAATSPRINZIP, wenn beratungspflichtige Behörden wie ein Landesjugendamt und Schulaufsicht zu wichtigen Themen des päd. Alltags schweigen, etwa zum Thema „Wann beginnt Machtmissbrauch in der Erziehung – Welche Reaktionen sind in schwierigen Situationen fachlich begründbar/ legitim“ und stattdessen Behörden- MitarbeiterInnen nach eigener persönlicher päd. Haltung Aufsichtsentscheidungen treffen, denen keine nachvollziehbare objektivierende Entscheidungskriterien zugrunde liegen. Dazu 2 Stellungnahmen:

a. Detlef Diskowski, früher Ministerium für Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg, nun aktiv z.B. im Forum zur Kindertagesbetreuung in Brandenburg/ heute https://kita-brandenburg.de/ :„Aus meiner Sicht gibt es hierzu viele Gründe:

– „Feigheit“ = wenn man nichts macht, kann man auch nichts falsch machen; man kann nicht auf irgendetwas festgenagelt werden (deshalb ist auch verbieten leichter als erlauben)

– „Unkenntnis der konkreten Problemlagen und fehlende päd. Handlungskompetenz“ = deshalb ist es auch so schwer, oben vom Turm Orientierendes zur Praxis beizutragen.

– Weil wir keine Tradition (insbes. im Westen) der Befassung mit dem Handwerkszeug der Pädagogik haben. Wir können tagelang über Konzepte und Annahmen (Theorien sind das selten) schwadronieren, aber kaum über die konkrete Handlungsebene.“

b. (Will anonym bleiben) „Nicht nur Pädagogen brauchen einen Qualitätsdialog. Ich denke das er auch in der Sozialen Arbeit bzw. in allen Sozialberufen dringend nötig ist. Es werden in all diesen Bereichen unbedingt mehr verbindliche Standards benötigt. Nicht nur in Fällen von Kinderschutz oder ähnlichen Situationen.“

2. LEITSÄTZE ALS BASIS FÜR EINEN QUALITÄTSDIALOG

In der Pädagogik kann nur fachlich begründbares/ legitimes Handeln rechtens sein. Dabei ist natürlich die fachliche Diskussion zu führen, woran sich die fachliche Begründbarkeit/ Legitimität orientiert. Noch gibt es z.B. keine „Leitsätze der Jugendhilfe“, die dabei Orientierung böten. Hier ein Lösungsansatz:

Handlungsleitsätze Erziehungshilfe

3. ANTWORTEN DER BAGLJÄ (Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter) ?

Die BAGLJÄ nennt in ihren Empfehlungen zum Bundeskinderschutzgesetz unter Ziffer IV.1.1a zum FEHLVERHALTEN VON MITARBEITERINNEN u.a. folgende Sachverhalte:
  • Aufsichtspflichtverletzung
  • Verursachte oder begünstigte Übergriffe / Gewalttätigkeiten
  • sexuelle Gewalt
  • unzulässige Strafmaßnahmen, herabwürdigende Erziehungsstile, grob unpädagogisches, vorwiegend verletzendes Verhalten, Kindesrechtverletzung

Das hilft wohl nicht weiter: was bedeutet z.B. „grob unpädagogisch“?

Vor allem der letzte Sachverhalt führt nach den bundesweiten Projekterfahrungen zu erheblicher Interpretationsproblematik. Z.B. die Formel „grob unpädagogisch“ öffnet Tür und Tor für ausschließlich subjektive Bewertungen, verbunden mit Beliebigkeitsgefahr. Die Begriffsfindung der BAGLJÄ lässt zwar den Willen erkennen, dem Kindesschutz Rechnung zu tragen, tatsächlich aber zeigt sie, wie wichtig es ist, dass PädagogInnen, Behörden und sonstig Beteiligte der Kindeswohl- Interpretation ein gemeinsames Kindeswohl- Bewertungssystem zugrunde legen. Das wiederum bietet das Projekt an, wenn es im Rahmen des „unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl“ Strukturen vorschlägt. Jedenfalls sind die von der BAGLJÄ vorgeschlagenen Begriffe zu „schwammig“, um darauf aufbauend Kindesschutz zu gewährleisten. Im Interesse des Kindesschutzes und der dafür unabdingbaren Handlungssicherheit Verantwortlicher sollte eine Konkretisierung erreicht werden, was in Einrichtungen unter „Fehlverhalten von MitarbeiterInnen“ zu verstehen ist. Hierfür können die fachlich- rechtlichen Strukturen des Projekts herangezogen werden, insbesondere in der Abgrenzung „Verantwortbare Macht – Machtmissbrauch“.

Arten des Machtmissbrauchs

Für die Ombudschaft gilt gleiches. Auch Ombudspersonen benötigen eine Konkretisierung, was „Fehlverhalten“, mithin „Machtmissbrauch“ unter fachlichem und rechtlichem Aspekt beinhaltet. Nur dann kann das Instrument der Ombudschaft verwertbare und nachvollziehbare Empfehlungen/ Beratungen im Rahmen qualifizierter Verantwortung aussprechen, wobei das Verständnis, was „Fehl- verhalten“ ist, im Einklang mit der Sichtweise der Landesjugendämter stehen sollte.


Handlungsleitsätze Erziehungshilfe und Prüfschemata:

Spannungsfeld Kindesrechte- Erziehung


Grenzen setzen: Spannungsfeld Erziehungsauftrag-Kindesrechte


I. ZULÄSSIGKEIT VON EINGRIFFEN IN KINDESRECHTE IM SPANNUNGSFELD MIT DEM ERZIEHUNGSAUFTRAG

1. Fallbeispiel (Initiative Handlungssicherheit → Intensivgruppe für Jungen/ Handykontrolle)

In der Gruppe kursieren Gerüchte über unerlaubte Dateien auf einigen Handys (Pornographie, gewaltverherrlichende Texte). Die Pädagogen durchsuchen im Beisein der Jugendlichen die Handys. Bei zwei Jugendlichen werden Pornofilme mit minderjährigen „Darstellern“ gefunden. Die Handys werden einbehalten und nach Rücksprache mit der Polizei bei der zuständigen Dienststelle abgegeben.

2. Grundsatzthema „Eingriffe in Kindesrechte“

Die elterliche Erziehung und auf der Grundlage elterlichen Erziehungsauftrags durchgeführte Pädagogik unterliegen in fachlichem und rechtlichem Bezug denselben Anforderungen. Soweit Pädagogik in grenzsetzender Form verantwortet wird, muss diese zwangsläufig Rechte von Kindern und Jugendlichen (Kindesrechte) tangieren. In diesem Sinne greift jede verbale pädagogische Grenzsetzung – z.B. ein Verbot – automatisch in ein Kindesrecht ein, in der Regel in das Persönlichkeitsrecht der „Allgemeinen Handlungsfreiheit“ (Art 2 I GG). Das gleiche gilt für „aktive pädagogische Grenzsetzungen“ wie Handywegnahmen. Es besteht ein „natürlicher Machtüberhang in der Erziehung“. Auch kann von einem „natürlichen Spannungsfeld“ zwischen den Kindesrechten und dem Erziehungsauftrag gesprochen werden.

Merke: Es ist wichtig, zwischen Eingriffen in Kindesrechte und deren Verletzung zu unterscheiden.

Pädagogische Grenzsetzungen (verbal oder aktiv), d.h. pädagogisch begründbare (Frage 1 des Prüfschemas/ nachfolgend) Eingriffe in ein Kindesrecht, sind nicht nur fachlich begründbar, vielmehr auch rechtlich zulässig. Wären solche Eingriffe rechtlich unzulässig, wäre jede grenzsetzende Pädagogik unmöglich. Rechtswidrigkeit im Sinne des Verletzens eines Kindesrechts liegt erst dann vor, wenn eine pädagogische Grenzsetzung ohne Wissen und Wollen Sorgeberechtigter (Zustimmung ) praktiziert wird (Frage 3 des Prüfschemas) und darüber hinaus die rechtlichen Voraussetzungen der Gefahrenabwehr (Frage 4 des Prüfschemas) nicht erfüllt sind. Erst dann beinhaltet der mit der Grenzsetzung verbundene Kindesrechtseingriff eine Kindesrechtsverletzung, stellt einen „Machtmissbrauch“ dar.

3. Fachlich-rechtliche Würdigung des Fallbeispiels entsprechend dem nachfolgenden Prüfschema zulässige Macht

Prüfschema erklärt

 

Kindesschutzkonzept

 


II. WANN LIEGT MACHTMISSBRAUCH VOR ?

In Jugend-/ Behindertenhilfe, Schule/ Internat, Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt in folgenden Fällen Machtmissbrauch vor:

a.  Verhalten der PädagogInnen ist bei Eingriffen in Kindesrechte (Grenzsetzungen) „machtmissbräuchlich“,

  • wenn es zwar fachlich verantwortbar ist, d.h. das Verfolgen eines pädagogischen Ziels erkennen lässt, jedoch die Zustimmung Sorgeberechtigter (bei Taschengeld des Kindes/ Jugendlichen) fehlt und keine akute Eigen-/ Fremdgefährdung des/r Kindes/Jug. vorliegt, auf die „geeignet“ und „verhältnismäßig“ reagiert wird.
  • wenn es fachlich nicht begründbar ist und keine akute Eigen-/ Fremdgefährdung des/r Kindes/Jug. vorliegt, auf die „geeignet“ und „verhältnismäßig“ reagiert wird.
  • wenn es sich als Kindeswohlgefährdung darstellt.
  • wenn es als strafbar einzustufen ist.

b.  Machtmissbrauch in Behörden („Willkürverbot“) liegt in folgenden Fällen vor:

  • Eine Entscheidung ist fachlich unverantwortbar, d.h. sie beinhaltet keine nachvollziehbare Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern/ Jugendlichen (Kindeswohl), oder sie entspricht nicht der Rechtsordnung, verletzt insbesondere Kindesrechte.
  • Eine Entscheidung verletzt Art. 3 CRC (UN Kinderrechtskonvention), d.h. sie ist nicht vorrangig auf das Kindeswohl ausgerichtet. Letzteres ist der Fall, wenn Eigeninteressen im Vordergrund stehen oder sachfremde Erwägungen.
  • Eine Entscheidung stellt sich als „kindeswohlgefährdend“ oder als Straftat dar.
Beispiele fachlicher Unbegründbarkeit sind auch im Kontext sexueller Übergriffigkeit hervorzuheben:

  • In Abgrenzung zu pädagogisch begründbarer Zuwendung handelt es sich um Machtmissbrauch, wenn kein nachvollziehbares pädagogisches Ziel verfolgt wird. Dieser in der Praxis oft als Grauzone empfundene Bereich ist von hoher Bedeutung, geht über den Rahmen strafbaren Verhaltens (sexueller Missbrauch) weit hinaus. Wenn also der Pädagoge ein sechsjähriges Mädchen bei der Begrüßung umarmt, ist dies in hohem Maße mit Zuwendung gleichzusetzen. Wenn aber der Pädagoge das Mädchen auf seinen Schoß setzt, um mit ihm „Reiterspiele“ zu machen, stellt sich die Situation anders dar.

Zur Abgrenzung sexuelle Selbstbestimmung – Machtmissbrauch

Der Begriff „Machtmissbrauch“ darf nicht unbestimmt bleiben. Er hat im vorbeschriebenen Umfang eine fachliche und eine rechtliche Komponente, ist somit eng verknünpft mit der Zweigliedrigkeit des Kindeswohls.


III. TASCHENGELDANSPRUCH

Der Taschengeldanspruch ist höchstpersönlich. Das Taschengeld darf nur mit Zustimmung des Kindes/ Jugendlichen einbehalten oder verwendet werden. Letzteres erfordert daher eine pädagogische Vereinbarung zwischen Kind/ Jugendlichem und Anbieter, abgeleitet aus einer pädagogischen Regel, die am besten bei der Aufnahme bekannt ist und akzeptiert wird. Die Regel lautet z.B.: „Bei uns hast Du Dich zur Wiedergutmachung eines von Dir verursachten Schadens am Eigentum der Einrichtung oder am Eigentum von Mitbewohnern aus Deinem Taschengeld zu beteiligen (Bemerkung: hier könnte jetzt ein Prozentsatz als Obergrenze eingefügt werden/ maximaler Prozentsatz der Beteiligung, bezogen auf das gesamte monatliche Tasdchengeld). Der Prozentsatz der Beteiligung darf nicht so hoch liegen, dass der Taschengeldzweck „im laufenden Monat persönliche Bedürfnisse zu stillen“ konterkarriert wird, d.h. keinesfalls über 50 %. Der neue Bewohner wird gebeten, die Regel zu akzeptieren, was protokolliert wird. Widerruft es später diese pädagogische Vereinbarung, die ihm in ihrer pädagogischen Sinnhaftigkeit erläutert wird, wird ihm eine Auszeit eingeräumt, verbunden mit dem Hinweis, dass diese Regel eine Basis der jetzigen Betreung ist und – falls er sich daran nicht mehr gebunden fühle – sein weiterer Aufenthalt in der Einrichtung überdacht werden müsste.

Als Beispiel einer einrichtungsinternen Taschengeld- Regelung sei auf eine entsprechende Taschengeld- Richtlinie in Bremen verwiesen:

„6.4 Aus dem Taschengeld können Verbindlichkeiten gegenüber Dritten (Schulden) und anerkannte oder gerichtlich festgestellte Schadenersatzansprüche erfüllt werden. Hierfür sollte eine ratenweise Tilgung einvernehmlich mit dem jungen Menschen vereinbart werden. Sie hat sich an der Verhältnismäßigkeit zu orientieren, d. h. die Dauer der Tilgung und die Höhe der wöchentlichen bzw. monatlichen Raten muss für den jungen Menschen einsichtig sein. Für Kinder sind bereits zwei Monate eine lange Zeit. Für Jugendliche sollte ein Zeitraum von 6 Monaten möglichst nicht über- schritten werden. Mit ihrem Einverständnis sind besonders für ältere Jugendliche und junge Volljährige individuelle Lösungen möglich, die unbedingt schriftlich festzuhalten sind. In keinem Fall darf der Tilgungsbetrag 50 % des Taschengeldes/ Barbetrages der jeweiligen Altersstufe übersteigen.

6.5 Eine Heranziehung gegen den Willen des Minderjährigen darf nur nach ausdrücklicher Erklärung und Begründung durch die sozialpädagogischen Betreuungskräfte im Einvernehmen mit der Leitung der Einrichtung/ sonstigen Betreuten Wohnform und den Personensorgeberechtigten erfolgen (Bemerkung des Projekts: davon wird abgeraten, da der Taschengeldanspruch höchstpersönlich ist). Sie ist schriftlich zu dokumentieren und zur Einrichtungsakte des jungen Menschen zu nehmen. Bei größeren Verbindlichkeiten, die € 255,65 überschreiten, und in Zweifelsfällen ist der fallführende Sozialdienst und das Landesjugendamt Bremen zu beteiligen, um festzustellen, ob die Verhältnismäßigkeit der vorgenannten Ziffer 6.4 gewahrt ist.“

Heimgeschichte


Heimgeschichte: Konsequenzen


I. ANALYSE DER VERGANGENHEIT

Heimerziehung

    →   Macht und Gewalt in Heimen der 50er bis 70er Jahre

Ist die Vergangenheit aufgearbeitet? Reicht es, sich nach 40 Jahren zu entschuldigen und „Entschädigung“ zu zahlen, wenn – wie nachfolgend beschrieben – eine wichtige Ursache damaliger „Pädagogik“ auch heute teilweise weder erkannt noch beseitigt ist? Abgesehen davon, dass seelisches Leid – verbunden mit heute noch erforderlicher Therapie – finanziell nicht wiedergutgemacht werden kann, bleibt festzustellen, warum Schläge und Misshandlungen möglich waren und welche Konsequenzen für die Gegenwart daraus zu ziehen sind.

  • Der Begriff „Kindeswohl“ wurde ausschließlich im Zeitgeist subjektiv gelebt, unter anderem nach dem Prinzip „Schläge schaden nicht“. Dies bedeutet, dass weder die Kindesrechte ausreichend gesetzlich gesichert waren noch ein fachlicher Rahmen pädagogisch verantwortbaren Verhaltens bestand, der die berechtigten Interessen von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsprozessen eingeschlossen hätte. Auch wenn aufgrund des „Züchtigungsrechts“ Schlagen legal war, hätten sich doch PädagogInnen fragen sollen, ob es fachlich begründbar ist. Stattdessen wurde Schlagen als selbstverständlicher Bestandteil der Erziehung gesehen. Fachlich begründbar wäre es aber nur, wenn damit nachvollziehbar ein pädagogisches Ziel verfolgt werden könnte. Dies ist freilich auszuschließen: Schlagen ist nicht geeignet, Eigenverantwortlichkeit oder Gemeinschaftsfähigkeit zu beeinflussen. Die pädagogische Fachwelt sollte sich auch fragen, warum es im Jahr 2001 eines Gesetzes bedurfte, um solche „Erziehungs“maßnahmen zu verbieten („Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“). Fachverbände hätten dies besser zuvor in ausformulierter Erziehungsethik durch „Leitlinien pädagogischer Kunst“ sicherstellen sollen, d.h. Schlagen als fachlich unverantwortbaren pädagogischen Kunstfehler ausgliedern. Eine solche Struktur „fachlicher Begründbarkeit“ war nicht vorhanden.
  • Da sich die pädagogische Fachwelt nicht zur objektivierenden Struktur „fachlicher Begründbarkeit“ bekannte, vielmehr der Begriff „Kindeswohl“ weitgehend subjektiv interpretiert wurde, ausschließlich im Kontext der Legalität, war es möglich, dass sich erzieherische Elemente pädagogischer Grenzsetzung mit aufsichtstypischem Verhalten vermischten und militärähnlicher Drill wie Einsperren und Züchtigung als vertretbare „Erziehung“ begründet wurden. Aufsichtstypisches Verhalten, d.h. Verhalten zur Abwehr von Eigen- oder Fremdgefährdung, die vom Kind/ Jugendlichen ausgeht, verfolgt aber Ziele der Gefahrenabwehr, die mit pädagogischen Zielen in keiner Weise vergleichbar sind: so kann ein gezielter und angemessener Schlag legal sein, wenn er einem Angriff auf ein anderes Kind begegnet. Damit ist solche Gefahrenabwehr (Notwehr) freilich keinesfalls Bestandteil der Pädagogik.
  • Es mangelte also an einem Orientierungsrahmen „fachlicher Begründbarkeit“ i.S. von „Leitlinien pädagogischer Kunst“. So konnte propagierte Erziehungsstrenge Verhaltensformen annehmen, die nach heutigem Verständnis Verletzungen seelischer und körperlicher Gesundheit sind. Das Nichtvorhandensein von Handlungsleitlinien öffnete Tür und Tor für i.S. des Kindesschutzes nicht geignetes Verhalten.
  • Die Rechte von Kindern und Jugendlichen waren nicht nur mangelhaft beschrieben, vor allem bestand aufgrund einer umfassenden Grauzone keine Transparenz im Umgang mit den Kindesrechten. Was in den damals „geschlossenen Systemen“ geschah, wurde trotz Heimaufsicht der Landesjugendämter nicht evident. Es bestanden Grauzonen, zumal neutrale Beschwerdeverfahren fehlten.
Betrachten wir die Nachkriegsheimgeschichte im Detail, ist Folgendes festzustellen:
  • Es bestand eine Gemengelage von Erziehung und aufsichtstypischem Verhalten, z.B. in Form militärähnlichen Drills. Der Begriff „Kindeswohl“ wurde im Lichte des Zeitgeistes interpretiert, wonach z.B. „eine Ohrfeige niemandem schadet“.
    Befund: Keine Unterscheidung „Pädagogik – Aufsicht“
  • In der Nachbetrachtung entsteht der Eindruck der beliebigen Interpretation des „Kindeswohls“, ausschließlich i.S. der subjektiven Bewertung „was für das Kind/ den Jugendlichen richtig ist“. Diagnose: „Kindeswohlbeliebigkeit“ 
Was waren die Ursachen?
  • einerseits die Tatsache, dass die Kindesrechte nicht genügend gesetzlich beschrieben waren
    Ursache Nr. 1 = Kindesrechte- Gesetzeslücken
  • parallel hierzu – auch mangelhafte Absicherung der Kindesrechte bedingend – war eine eindeutige rechtliche Grenze der Erziehung nicht festgelegt, der Begriff „Kindeswohlgefährdung“ zu abstrakt
    Ursache Nr. 2 = gesetzlich nicht begrenzte Erziehungsverantwortung
  • andererseits war unklar, ob und mit welchem Inhalt erzieherisches Verhalten fachlich begründbar ist (fachliche Erziehungsgrenze)
    Ursache Nr. 3 = fehlende fachliche Erziehungsgrenze
  • schließlich bestand keine genügende Transparenz im Umgang mit den Kindesrechten
    Ursache Nr. 4 = fehlende Kinderrechte- Transparenz

II. WIE SIEHT ES HEUTE AUS ? WURDEN KONSEQUENZEN GEZOGEN ?

Ohne einen Vergleich mit den emotionalen und körperlichen Verletzungen von Kindern und Jugendlichen in Heimen der 50er bis 70er Jahre anzustellen, ist für die heutige institutionelle Erziehung zu fragen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Die Aufarbeitung der Vergangenheit darf sich nicht auf rechtsunverbindliche Entschuldigungen und „Entschädigungen“ begrenzen.

Aus der Vergangenheit gelernt?

Auf die heutige institutionelle Pädagogik projiziert, besteht die Erkenntnis, dass in der Vergangenheit für Misshandlungen relevante Ursachen nicht behoben sind, jedenfalls nicht umfassend:

  • Auch heute sind wichtige Kindesrechte gesetzlich nicht fixiert, z.B. in der Anordnung und Durchführung von Freiheitsentzug Ursache Nr. 1
  • Eine Initiative „Kindesrechte in die Verfassung“ scheiterte 2009, weil Teile der Politik der Auffassung waren, die Elternautonomie stünde dem entgegen. Ursache Nr. 2
  • Es fehlen „fachliche Handlungsleitlinien“ der Anbieter und – als Basis dafür – „Leitlinien pädagopgischer Kunst“, die den Rahmen „fachlicher Verantwortbarkeit“ beschreiben. Ursache Nr. 3
  • Auch mangelt es an Kindesrechte-Transparenz, da zum Teil weder Jugend noch Landesjugendämter in der Lage sind, die Kindesrechte im natürlichen Spannungsfeld „Pädagogik – Recht“ auf die Praxisebene zu projizieren (Spannungsfeld Pädagogik – Recht) und neutrale Beschwerdeinstanzen nicht eingerichtet sind. Ursache Nr. 4
  • Es wird nicht ausreichend zwischen Pädagogik und Aufsicht unterschieden →  Ursache Nr. 5

Auch heute noch werden zum Teil typische Aufsichtsmaßnahmen (Verhalten im Kontext der Gefahrenabwehr- Indikation) wie Postkontrolle, Kontaktsperre, Freiheitsentzug und „Beruhigungsraum“ in die Pädagogik „importiert“, d.h. in untauglichem Versuch pädagogisch begründet.So entspricht z.B. der Freiheitsentzug“ nicht den Anforderungen „fachlicher Begründbarkeit“: es ist nicht erkennbar, welches pädagogisches Ziel damit verfolgt werden könnte. Warum also streiten sich seit Jahrzehnten Fachkräfte in einer PRO- CONTRA- Diskussion über s.g. „geschlossene Gruppen“, wenn es doch dabei nicht um Pädagogik geht? Wenn typische Aufsichtsmaßnahmen in die Pädagogik „importiert“ werden, d.h. fehlerhafterweise pädagogisch begründet, ist von „pädagogischen Kunstfehlern“ auszugehen, die Kinder/ Jugendliche in ihrer Entwicklung negativ beeinflussen. Rechtlich betrachtet besteht die Gefahr, dass Voraussetzungen übersehen werden, die mit der Gefahrenabwehr i.R. von Aufsichtsverantwortung verbunden sind: „geeignetes“ und „verhältnismäßiges“ Reagieren auf eine Gefahr. Konsequenz kann sein, dass Kindesrechte verletzt werden.

Daher aus der Vergangenheit Konsequenzen ziehen:

  • Gestärkte Handlungssicherheit im pädagogischen Alltag durch Handlungsleitlinien im Kontext „fachlicher Begründbarkeit“
  • Im präventiven Kindesschutz: qualifizierte Beratung von Einrichtungen durch Landesjugendämter
  • Bessere Transparenz durch neutrale Beschwerdeverfahren, z.B. durch Ombudschaften