Handlungsleitlinien


Leitlinien fachlicher Erziehungsgrenze


I. VORBEMERKUNG

Einzel-/Teamreflexion grenzsetzender Erziehung ist im Spannungsfeld mit Kindesrechten in der Abgrenzung zu Machtmissbrauch in 3 aufeinander aufbauenden Stufen notwendig:

  1. die persönliche pädagogische Haltung
  2. die fachliche Legitimität
  3. die rechtliche Zulässigkeit.

Pädagogisches Handeln kann ohne fachliche Legitimität nicht rechtmäßig sein. Ebenso wenig ist fachliche Legitimität ohne eine zugrundeliegende persönliche pädagogische Haltung denkbar. Die drei Stufen sind wesentlicher Bestandteil jeder Selbst- und Teamreflexion. Das Ergebnis der Reflexion lautet: meine/ unsere Entscheidung ist fachlich legitim und rechtlich zulässig. Ich/wir habe/n nicht ausschließlich die eigene pädagogische Haltung zugrunde gelegt, sondern anhand der objektivierenden Kriterien der fachlichen Legitimität und der rechtlicher Zulässigkeit entschieden. Nur diese dreistufige Reflexion führt im Sinne des „Kindeswohls“ zu nachvollziehbaren Entscheidungen: auf einer objektivierenden Ebene, ohne von Beliebigkeitsgefahr geprägter ausschließlicher Subjektivität/ persönlicher Haltung. Sie ist ohne vorhandene Handlungsleitsätze unmöglich, die in den Reflexionsstufen 2 und 3 zur Anwendung kommen.


Handlungsleitsätze Erziehungshilfe          Analyse Jugendhilfe – die Leitsätze als Lösung

Interne u. externe Verfahren: Kindeswohlsicherung u. Stärkung der Handlungssicherheit

Schreiben an WDR

Ein einheitliches Kindeswohlverständnis der PädagogInnen und der Behörden (Jugendamt, Landesjugendamt, Schulaufsicht) kann sich nur auf der Grundlage von Handlungsleitlinien entwickeln, welche die Auslegung des „unbestimmten Rechtsbegriffs Kindeswohl“ erleichtern, insoweit im rechtlichen Kontext einen „Beurteilungsspielraum Kindeswohl“ bieten.

Handlungsleitlinien sind in folgendem Kontext relevant:
  • Handlungsleitsätze zur Beschreibung fachlicher Erziehungsgrenzen i. S. fachlicher Legitimität
  • Fachliche Handlungsleitlinien“ der Anbieter (§ 8b II Nr.1 SGB VIII) als „Agenda pädagogische Grundhaltung; Bemerkung: Handlungsleitsätze zur Beschreibung fachlicher Erziehungsgrenzen würden einen erleichternden Rahmen für den Anbieter bieten, den eigenen pädagogischen Weg zu beschreiben.
  • Handlungsleitsätze der öffentlichen Jugendhilfe zur Entwicklung eines einheitlichen Kindeswohl- verständnisses und Vermeidung von Beliebigkeitsgefahr in der Kindeswohlauslegung:
Hinweis zu den Handlungsleitlinien:
  • PädagogInnen und verantwortliche Behörden entscheiden über das Wohl von Kindern und Jugendlichen (Kindeswohl). Sie sollten dies in objektivierenden Strukturen tun, fachlich – rechtliche Strukturen reflektierend. Natürlich liegt jeder für Kinder und Jugendliche relevanten Entscheidung eine die pädagogische Haltung wiederspiegelnde persönliche Bewertung zugrunde. Dies beinhaltet aber keinen Ermessensspielraum, vielmehr sollte im Kontext „fachliche Begründbarkeit und Kindesrechte“ – beides relevante Kindeswohlkomponenten – eine Reflexion erfolgen. Grundlage hierfür sollten Handlungsleitlinien sein, die einen Beurteilungsrahmen (juristisch: „Beurteilungsspielraum“) zur Auslegung des unbestimmte Rechtsbegriff Kindeswohlbeschreiben. Aufgabe der Anbieter ist es, diesen Beurteilungsrahmen als eigene pädagogische Grundhaltung in „fachlichen Handlungsleitlinien“ (§ 8b II Nr.1 SGB VIII) selbstbindend und transparent darzustellen.
Fachliche Handlungsleitlinien der Anbieter nach § 8b II Nr.1 SGB VIII:
  • „Fachliche Handlungsleitlinien“, in denen Anbieter ihre pädagogische Grundhaltung im Rahmen „fachlicher Verantwortbarkeit“ transparent darstellen (§ 8b II Nr.1 SGB VIII) sind seit dem 1.1.2012 „zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt“ gesetzlich vorgesehen.
  • Übrigens: der Gesetzgeber geht davon aus, dass nicht nur Jugendhilfe- Einrichtungen „fachliche Handlungsleitlinien“ beschreiben, vielmehr alle Träger von „Einrichtungen, in denen sich Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten“ (§ 8b II SGB VIII), d.h. auch Träger der Behindertenhilfe, Schulen/ Internate, kinder-/ jugendpsychiatrischer Kliniken.

Die rechtliche Wirkung von Handlungsleitlinien:

  • Wikipedia: „Lege artis (lat.: lex, legis – Gesetz; ars, artis – Kunst) bedeutet so viel wie kunstgerecht oder nach den Regeln der Kunst. Hierunter versteht man, dass eine Handlung entsprechend den gesellschaftlichen Normen, wissenschaftlichen Standards oder gesetzlichen Regeln, sowie unter Berücksichtigung aller brauchbaren Erkenntnisse und technischen Möglichkeiten, und unter Anwendung der persönlichen körperlichen und geistigen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse auszuführen ist.“
  • Im Medizinalrecht gilt für die empirisch entwickelten „Regeln ärztlicher Kunst“, dass eine in diesem fachlichen Rahmen durchgeführte Behandlung vom Einverständnis der/ des PatientIn getragen ist und somit keine strafbare Körperverletzung sein kann.
  • In der außerfamiliären Pädagigik würden „Leitlinien pädagogischer Kunst“ ebenfalls dazu führen, dass in diesem Rahmen ausformulierter Erziehungsethik durchgeführte Erziehung vom Erziehungsauftrag gedeckt ist, von der stillschweigenden Zustimmung Sorgeberechtigter. Solange bundesweite „Leitlinien pädagogischer Kunst“ fehlen, erstreckt sich die stillschweigende Zustimmung Sorgeberechtigter nur im allgemeinen Sinn auf das für sie vorhersehbare Erziehungsverhalten, den pädagogischen Alltag. Für einzelne, diesen Rahmen verlassende Erziehungsmethoden müsste eine ausdrückliche Zustimmung eingeholt werden. Soweit Anbieter eigene „fachliche Handlungsleitlinien“ i.S. § 8b II Nr.1 SGB besitzen, konkretisiert sich eine den umfassenden Rahmen fachlich begründbaren Verhaltens („Leitlinien pädagogischer Kunst“) ausmachende Zustimmung auf die in den „fachlichen Handlungsleitlinien“ beschriebene pädagogische Haltung des Anbieters und damit verbundenes pädagogisches Verhalten. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass die „fachlichen Handlungsleitlinien“ von Sorgeberechtigten unterschrieben werden sollten.

II. WAS BEINHALTEN „FACHLICHE HANDLUNGSLEITLINIEN / AGENDA PÄDAGOGISCHE GRUNDHALTUNG“ DES ANBIETERS ?

In der „Agenda pädagogische Grundhaltung legt ein Anbieter seine eigenen „fachlichen Handlungsleitlinien“ fest, d.h. seine pädagogische Grundhaltung: transparent für die ihn beauftragenden Sorgeberechtigten (Betreuungsvertrag), für Behörden wie Jugendämter oder Landesjugendamt (Qualitätsdialog i.R. der gesetzlichen Beratungspflicht des Landesjugendamtes (§ 8b II SGB VIII). Es ist dies der pädagogische Weg, den der Anbieter i.R. fachlich- ethischer Verantwortung und rechtlicher Zulässigkeit gehen will, um den doppelten gesellschaftlichen Auftrag des Erziehens (Pädagogik) und der Aufsicht zu erfüllen (Gefahrenabwehr). Dies beinhaltet allgemeine Aussagen zur pädagogischen Haltung ebenso wie eine fachlich – rechtliche Bewertung typicher Fallbeispiele des pädagogischen Alltags. Hinweise zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen, verbunden mit Beschwerdeverfahren, ergänzen die Agenda. Im Unterschied zur Agenda stellen pädagogische Konzepte die Programmatik und den Verlauf der pädagogischen Angebote und Leistungen dar.

Wie wird in der stationären Erziehungshilfe eine Agenda pädagogische Grundhaltung gegenüber Sorgeberechtigten, Jugendamt und Landesjugendamt transparent verantwortet?
  1. Gegenüber Sorgeberechtigten sollte die Transparenz dadurch sichergestellt werden, dass die Inhalte der Agenda Bestandteil des Betreuungsvertrages werden (PDF/unten). Sofern ein Anbieter Sorgeberechtigten seine pädagogische Grundhaltung rechtzeitig vor Beginn der Hilfe zur Kenntnis bringt, wird späteres den Pädagogikprozess hemmendes Nachfragen zur Abklärung einer Zustimmung ebenso reduziert wie Rechtfertigungen gegenüber Eltern, der Leitung, dem Jugendamt/ Landesjugendamt und Beschwerdeverfahren.
  2. Gegenüber dem Jugendamt empfiehlt es sich, die Agenda in die Leistungsbeschreibung einzufügen.
  3. Gegenüber dem Landesjugendamt sollte die Agenda Grundlage eines Qualitätsdialoges sein. So könnte im Kontext einheitlichen Kindeswohlverständnisses eine gesicherte Grundlage geschaffen werden, die spätere Beanstandungen der Einrichtungsaufsicht reduziert.

Beispiel „fachliche Handlungsleitlinien“ einer Intensivgruppe

Betreuungsvertrag – Muster


III. HANDLUNGSLEITLINIEN – KONSEQUENZ AUS DER NACHKRIEGSHEIMGESCHICHTE

Die Schicksale von Kindern und Jugendlichen in Heimen der 50er bis 70er Jahre wurden u.a. an einem „Runden Tisch“ thematisiert (Abschlussbericht). Wenn wir jedoch unsere Heimvergangenheit auf die heutige institutionelle Erziehung projizieren, sind immer noch wesentliche Ursachen damaliger Vorkommnisse existent, wenn auch ohne vergleichbar gravierende Wirkungen:

  • gesetzliche Lücken hinsichtlich der Kindesrechte, z.B. in Durchführung des Freiheitsentzugs.
  • mangelnde Transparenz, ob und inwieweit die Kindesrechte im Alltag der Pädagogik gewahrt sind
  • fehlender Rahmen fachlicher Legitimation

Zu konstatieren ist eine Renaissance restriktiver Maßnahmen wie Freiheitsentzug, Postkontrollen und Abschließen in Beruhigungsräumen, verbunden mit Kinderrechte- Grauzonen. Es ist an der Zeit, Grenzen der Erziehung in Handlungsleitlinien zu beschreiben. Im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen kann nicht länger verantwortet werden, dass sich – je nach Zeitgeist – Inhalte pädagogischen Verhaltens grundlegend ändern. Als Beispiel ist auf eine Verdopplung der Platzzahl „geschlossener Gruppen“ in der letzten Zeit hinzuweisen, nachdem in den 90er Jahren die meisten Gruppen aufgelöst worden waren.

Kinder und Jugendliche dürfen nicht länger höchst unterschiedlichen „Erziehungsmethoden“ unterworfen sein, ohne Rücksicht auf ihre Rechte. Immerhin ist innerhalb der letzten 40 Jahre eine Entwicklung von militärähnlichen, teilweise menschenverachtenden Eingriffen der Nachkriegszeit über die „Laissez- Faire“- Haltung der 68er- Generation bis hin zu neuen Restriktionen festzustellen. Um insoweit Änderungen zu erreichen, sind sicherlich Gesetze anzupassen: z.B. in Art 6 Grundgesetz Kinder/ Jugendliche als Träger eigener Rechte festzuschreiben. Unabhängig von derartigen Initiativen ist aber eine praxisbezogene Reform einzuleiten, die auch auf die elterliche Erziehung ausstrahlt: auf der Basis von Handlungsleitlinien.

Wesentlicher Gesichtspunkt ist es dabei, den Rahmen ethisch- fachlich verantwortbarer Pädagogik herauszuarbeiten, insbesondere verbunden mit den Werten der Achtung, des Vertrauens und der Gerechtigkeit. Während in der Medizin eine ärztliche Behandlung de lege artis ausgeführt ist, wenn sie aufgrund des bekannten Standards der Medizin sachgerecht erfolgt, fehlt in der erzieherischen Verantwortung ein vergleichbarer Rahmen. Ein Arzt läuft im Falle eines „ärztlichen Kunstfehlers Gefahr, mit dem strafrechtlichen Vorwurf der Fahrlässigkeit überzogen zu werden, hingegen gilt in der Pädagogik teilweise das Prinzip „der Zweck heiligt die Mittel“, wobei etwa Maßnahmen des Freiheitsentzugs irrigerweise als pädagogisches Instrument betrachtet werden (sowohl von Befürwortern wie Gegenern, verbunden mit nicht endender Diskussionen auf der Haltungsebene). Mit solchen pädagogischen Begründungen typischer Aufsichtsmaßnahmen ist vor allem die Gefahr des Verletzens von Kindesrechten verbunden.