Kindeswohl

 


Ein einheitliches „Bewertungssystem – Kindeswohl“ ist dringend erforderlich.


I. Welche Wertigkeit haben Kinder und Jugendliche in der Gesellschaft?

Einige Rahmenbedingungen lassen das Interesse für Kinder und Jugendliche erkennen:

  • Welche Bedeutung haben sie in unserer Gesellschaft, etwa wenn sie lärmend unterwegs sind? Sind uns etwa südeuropäische Staaten voraus ?
  • Warum gibt es in den Parlamenten kaum Kinderlobby aber eine umfassende Autolobby?
  • Wie gehen wir mit der Beliebigkeitsgefahr in der Auslegung des „Kindeswohl“begriffs um?
  • Wer schult Jugend-, Landesjugendamt- und andere BehördenmitarbeiterInnen, um dieser Gefahr zu begegnen?
  • Ursachen für Machtmissbrauch in der Erziehung sollten wissenschaftlich analysiert werden.

Kwohl- Basis u. Wegweiser  Vortrag 2010- gemeinsames KW-Verständnis  UN-K.rechtskonv.


II. „Kindeswohl“ – Herausforderung für die pädagogische Fachwelt

1. Die Rechtswissenschaft ist mit Reglementierungen des Zusammenlebens befasst, überwiegend verbunden mit objektivierbaren Entscheidungen, zum Teil aber auch im Bewertungsmodus

der Auslegung unbestimmter Begriffe wie „öffentliches Interesse“ oder „Gemeinwohl“. Bestenfalls können dann solche Bewertungen nachvollziehbar sein, weil sie einem beschriebenen,

objektivierbaren „Beurteilungsspielraum“ unterliegen. Ist das nicht der Fall ist wie beim „unbestimmten Rechtsbegriff Kindeswohl“, besteht die Gefahr der Beliebigkeit und können Zweifel

an der Wissenschaftlichkeit aufkommen. Bleibt zu hoffen, dass Juristen ihre eigenen Grenzen erkennen und ihre gesellschaftliche Bedeutung entsprechend relativieren.

Unser Vorschlag eines „Beurteilungsspielraums“ für das Kindeswohl in der Erziehung sieht so aus:

2. Wer „auf der juristischen Ebene“ (Rechtsanwälte, Richter, Staatsanwälte) agiert, sollte wissen, dass der juristische „unbestimmte Rechtsbegriff Kindeswohl“

in der Erziehung das „fachlich legitime Handeln“ einschließt.

Es gilt der Kernsatz:  IN DER ERZIEHUNG KANN NUR FACHLICH LEGITIMES HANDELN RECHTMÄSSIG SEIN, DAS HEISST DEM KINDESWOHL ENTSPRECHEN.

Das Kindeswohl beinhaltet also in der Erziehung:  die Unverletzbarkeit des Rechts auf fachlich legitime   Erziehung (= auf nachvollziehbare

Förderung der  Entwicklung zur eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit / §1 SGB VIII).

Daraus leiten sich die folgenden Anforderungen und Orientierungen ab →

a. professionelle Zuwendung+ innere Bindungen des Kindes/Jugdln annehmen
b. Beziehungsaufbau zum K/Jug + Sicherstellung von Kontinuität und Stabilität
c. Fürsorge, Geborgenheit, Schutz der  körperlichen und  seelischen  Integrität

d. Wertschätzung und Akzeptanz
e. Förderung der Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen, Entwicklungsmöglichkeiten
f.  Vermeiden von Loyalitätskonflikten und Schuldgefühlen
g. Angemessene Leistungen zur Sicherung der Lebensgrundlage (Versorgung)
h. Grenzsetzung ist fachlich begründbar: aus  Sicht einer gedachten  neutralen
Fachkraft geeignet, ein pädag. Ziel zu verfolgen. Aktive Grenzsetzung muss
zusätzlich „angemessen“ sein (im Prüfschema verdeutlicht).
j.  Wille des K/Jug: abhängig von Verständnis / Fähigkeit der  Meinungsbildung
k. Kontakte/ Bindungen des Kindes/Jugendlichen  zu Eltern u.Bezugspersonen

Hier eine Übersicht zum Kindeswohl in der Erziehung:  

3. Mit dem Begriff „Kindeswohl“ ist für die Pädagogik die Herausforderung einer integriert fachlich- rechtlichen Bewertung schwieriger Alltagssituationen verbunden („Kindeswohl“- Definition/ Ziffer 2). Die Beantwortung der Rechtsfrage, ob dem „Kindeswohl“ im Einzelfall der Erziehungspraxis entsprochen wird (z.B. Handywegnahme), hängt von der „fachlichen Legitimität“ ab, das heißt davon, ob das Verhalten fachlich begründbar ist. Die pädagogische Fachwelt sollte diese Prüfung durch Handlungsleitsätze erleichtern, die für Juristen zugleich einen „Beurteilungsspielraum“ der Begriffsauslegung bieten und der mangels erziehungswissenschaftlicher Klarheit bestehenden Gefahr subjektiver – ausschließlich auf pädagogischer Haltung beruhender – Entscheidungen begegnen würden.

Das im ursprünglich rechtlichen Sinn als „unbestimmter Rechtsbegriff“ eingestufte „Kindeswohl“ kann in der Erziehungspraxis nur dann den Kindesschutz sicherstellen, wenn es fachlich- pädagogisch in grundsätzlichen Aussagen erläutert wird, z.B. wie folgt:

  • Handle stets so, dass die zugrunde liegende Entscheidung geeignet ist, ein pädagogisches Ziel der Eigenverantwortlichkeit und/ oder Gemeinschaftsfähigkeit zu verfolgen, das heißt fachlich begründbar und mithin legitim ist.
  • Im Erziehungsalltag verantworteter Zwang muss fachlich legitim sein.
  • Es ist nicht opportun, die am Ende eines pädagogischen Prozesses eintretende Eigen- oder Fremdgefährdung des Kindes/ Jgendlichen einzuplanen und die vorrangig gefragte Erziehungsverantwortung nicht wahrzunehmen.
  • Im Zusammenhang mit Zwang kann fachlich legitimes Handeln Situationen entgegen wirken, in denen sich Pädagogen nur noch mittels „Gefahrenabwehr“ im Rahmen von Notwehr zu helfen wissen, etwa den Angriff eines Jugendlichen abwehren. Das juristische Instrument der „Gefahrenabwehr“ bei Eigen- oder Fremdgefährdung ist in ihrem Primärzweck ungeeignet, ein pädagogisches Ziel zu verfolgen.
  • Erläuterung, welches Handeln – vorbehaltlich des konkreten Einzelfalls – geeignet ist, ein pädagogisches Ziel zu verfolgen und welches sich als „pädagogischer Kunstfehler“ darstellt.

III. Konkretisierung der Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“

“Kindeswohl ist wahrscheinlich das zynischste Lügenwort, dass sich ein deutscher Justiz-/ Behördenapparat seit über 50 Jahren hat einfallen lassen, eine Worthülse, um noch das größte Verbrechen gegen Kinder zu decken” („Die vaterlose Gesellschaft“/ M. Matussek). So ganz unberechtigt ist diese überspitzte Darstellung nicht: Erziehungswissenschaft und Jurisprudenz finden keine konkretisierenden Antworten, welches Verhalten dem “Kindeswohl” entspricht. Juristen sprechen vom „unbestimmten Rechtsbegriff Kindeswohl“. Wikipedia: „Unbestimmte Rechtsbegriffe bezeichnen ein Merkmal innerhalb eines gesetzlichen Tatbestands, das vom Gesetzgeber mit einem mehrdeutigen Inhalt versehen wird und dessen objektiver Sinn sich deshalb nicht sofort erschließt. Vor der Rechtsanwendung bedarf der unbestimmte Rechtsbegriff der Auslegung, um seinen maßgeblichen Inhalt zu ermitteln. Ungeachtet seiner inhaltlichen Unschärfe gibt es für unbestimmte Rechtsbegriffe in jedem Einzelfall nur eine richtige Auslegung. Diese muss die Verwaltungsbehörde (Jugend-/ Landesjugendamt, Schulaufsicht) finden, gegebenenfalls durch das Verwaltungsgericht überprüft“.

Das Projekt empfiehlt nachfolgend für den pädagogischen Alltag eine Konkretisierung der beiden Begriffe „Kindeswohl“ und „Kindeswohlgefährdung“, auf § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aufbauend. Vorab: im allgemeinen Sinn erfordert das „Kindeswohl“, dass die Entwicklung zur eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit gefördert wird (§ 1 Abs.1 Sozialgesetzbuch VIII/ SGB VIII) und die Kindesrechte beachtet werden. In der Pädagogik speziell ist – angesichts des Spannungsverhältnisses Erzieungsauftrag- Kindesrechte – zu beachten, dass jedes der Persönlichkeitsentwicklung nicht dienliche Verhalten (päd. nicht begründbar/ fachlich illegitim) automatisch ein Kindesrecht verletzt, da es vom Erziehungsauftrag nicht getragen ist.

Im Interesse der Handlungssicherheit der PädagogInnen und angesichts festzustellender Beliebigkeitsgefahr in Behörden besteht die Notwendigkeit, die Begriffe im Detail wie folgt zu konkretisieren:

KINDESWOHL

  • Kindeswohl umschließt das körperliche, geistige und seelische Wohl, in der Pädagogik sichergestellt durch fachlich legitimes, d.h. begründbares, Verhalten. Fachlich begründbar ist Verhalten, wenn nachvollziehbar ein pädagogisches Ziel der Eigenverantwortlichkeit  und/ oder „Gemeinschaftsfähigkeit“ verfolgt wird (§ 1 Abs.1 SGB VIII).

KINDESWOHLGEFÄHRDUNG liegt im Kontext der Pädagogik vor:

  • Bei Lebens- oder erhebliche Gesundheitsgefahr
  • Bei prognostizierter andauernder Gefahr für die Entwicklung zur eigenverantwortlichen, gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit in körperlicher, geistiger oder seelischer Hinsicht, verursacht durch fachlich nicht begründbares Verhalten. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Vernachlässigung. Vernachlässigung ist kindeswohlgefährdend, wenn aufgrund fehlender oder unzureichender Fürsorge elementare Bedürfnisse nicht oder nur mangelhaft befriedigt werden, mit der Prognose chronischer körperlicher, geistiger oder seelischer Unterversorgung.

Neben der unmittelbar Erziehungsverantwortlichen und beratenden sowie kontrollierenden Behörden zugemuteten Unklarheit in der Kindeswohl- Auslegung, die sich auf deren Handlungssicherheit und damit den Kindesschutz negativ auswirken muss, besteht auch in der Frage, wann aus einer Kindeswohlverletzung eine Kindeswohlgefährdung resultiert, keine ausreichende fachliche und rechtliche Hilfestellung. In jedem Einzelfall ist vielmehr die Prognose zu stellen, ob eine auf Dauer ausgelegte Kindeswohlgefährdung vorliegt. Ob die Schwelle zur Kindeswohlgefährdung erreicht ist, bedarf einer komplexen fachlichen Einschätzung, die hohe Anforderungen an die Fachkräfte und die Justiz stellt. Allein bei Lebens- oder erheblicher Gesundheitsgefahr eines jungen Menschen spielt die dargelegte Prognose keine Rolle, resultiert aus einmaliger Kindeswohlverletzung automatisch eine Kindeswohlgefährdung. Wir haben in unseren bundesweiten Seminaren und in sonsti- gen Kontakten leider feststellen müssen, dass Behörden, insbesondere Jugendämtern, der Unterschied zwischen Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung nicht immer geläufig ist und damit zum Teil vorschnell eine Kindeswohlverletzung mit einer Kindeswohlgefährdung gleichgesetzt wird, mit erheblichen Auswirkungen auf den jungen Menschen und dessen sorgeberechtigten Eltern und Vormünder, etwa als Anordnung einer Inob- hutnahme oder als gerichtlich initiierter Eingriff in das Sorgerecht (§ 1666 BGB).

Wir weisen auch auf die unterschiedliche Bedeutung des Kindeswohls hin, abhängig von vier möglichen Kindeswohl- Stufen:

  1. Sicherung des Kindeswohls durch fachlich legitimes Entscheiden und Handeln, sowohl auf der unmittelbaren Ebene der Erziehungsverantwortlichen als auch auf der Ebene beratender und kontrollie- render Behörden. Diese Voraussetzung für das Heranwachsen junger Menschen zur eigenverantwortli- chen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit ist auf beiden Ebenen zu beachten. Dabei muss freilich die Frage gestellt werden, ob Landesjugendämter ihrerseits einer funktionierenden Fachaufsicht unterliegen
  2. Beeinträchtigung des Kindeswohls, im Wesentlichen bei fachlich legitimen Grenzsetzungen
  3. Verletzung des Kindeswohls im Einzelfall durch fachlich illegitimes Handeln, etwa bei Grenz- setzungen oder durch Nichtwahrnehmen der Erziehungsverantwortung
  4. Kindeswohlgefährdung bei einmaliger Verletzung des Kindeswohls (Stufe 3), verbunden mit einer vo- raussichtlich nachhaltig negativen Wirkung oder bei Lebens- bzw. erheblicher Gesundheitsgefahr

IV. IN GRAPHISCHER DARSTELLUNG DIE DREI ELEMENTE DES KINDESWOHLS:


V. Ziel „einheitliches Kindeswohlverständnis“

Der Kindesschutz und die damit verbundene Handlungssicherheit der PädagogInnen sowie mittelbar verantwortlichen Bhörden erfordern ein einheitliches Kindeswohl- Verständnis: auf der Grundlage eines „Kindeswohl- Bewertungssystems“ (z.B. im Rahmen dieses Projekts), das sowohl fachlichen als auch rechtlichen Anforderungen gerecht wird, selbstverständlich ebenso den nachfolgenden grundlegenden Entscheidungskriterien:

  • fachlich: Innere Bindungen der/s Kindes/Jugendlichen, Wille der/s Kindes/Jugendlichen, Kontinuität und Stabilität von Erziehungsverhältnissen, Positive Beziehungen zu den Eltern
  • rechtlich: Art. 3 UN Kinderrechtskonvention (Bemerkung: gilt für Kinder und Jugendliche): „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, …ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (best interest/ wohlverstandenes Kindesinteresse). Wichtig ist, dass sich Verantwortliche in die Lage der/s Kindes/Jugendlichen versetzen und aus deren/dessen Sicht entscheiden.
  • rechtlich: § 1 Abs.1 SGB VIII: “Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit” (allgemeine Ziele der Erziehung)
  • rechtlich: § 1666 BGB: das Kindeswohl beinhaltet das „körperliche, geistige, seelische Wohl“.

Um ein einheitlich für PädagogInnen und Behörden praktikables Kindeswohl- Bewertungssystem“ zu ermöglichen, sollte ein „Kindesrecht auf fachlich begründbares Entscheiden in der Erziehung gesetzlich fixiert werden, in Art. 6 Grundgesetz/ GG.


VI. EINHEITLICHES „KW- BEWERTUNGSSYSTEM“

Wenn vergleichbare Sachverhalte diametral unterschiedlich bewertet werden, kann dies nicht dem „Kindeswohl“ dienen. Sachverhalte, die Kinder und Jugendliche betreffen, werden z.T. auch von Fachverbänden unterschiedlich bewertet. Das gilt z.B. hinsichtlich des Endlosstreits zur s.g. „geschlossenen Unterbringung„, aber auch im Kontext anderer religiöser Werteordnung. So hatte der Projektverantwortliche im Landesjugendamt Rheinland im Jahr 2008 den Kontakt mit dem „Verband islamischer Kulturzentren/ VIKZ“ und der „Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs/ IGMG“ gesucht, um gemeinsames Kindeswohlverständnis herbeizuführen, auch zu kritischen Fragen wie das Untersagen der Teilnahme an Klassenfahrten oder an Schul- Schwimmunterricht seitens muslimischer Eltern. Leider kam es zu keinem intensiven Positionsaustausch, da die Verbände eine diametral andersartige Meinung vertraten und sich einer kritischen Diskussion entzogen.

Es musws die Handlungssicherheit unmittelbar und mittelbar Verantwortlicher durch ein einheiliches „Kindeswohl- Bewertungssystem“ verbessert werden. Ein solches System sollte sowohl von Anbietern (Träger, Leitung, PädagogInnen) als auch von Verwaltungsbehörden, sonstigen Institutionen und der Politik anerkannt und angewendet werden. Dies wäre ein großer Fortschritt für die Kindesrechte und das „Kindeswohl“. Wenn dann noch das nachfolgend erläuterte Bewertungsssystem durch Handlungsleitsätze ergänzt würde,  im rechtlichen Sinn als „Beurteilungsspielraum“, darüber hinaus durch darauf aufbauende Anbieterleitlinien („fachliche Handlungsleitlien“ i.S. § 8b II Nr.1 SGB VIII), wären wichtige Voraussetzungen für einen qualifizierten Kindesschutz erfüllt.


VII. SCHULPFLICHT UND KINDESWOHL

Kindeswohl und Schulpflicht