Freiheitsentzug


Erziehen im Freiheitsentzug: geht das?


I. Neufassung §1631b II BGB: „freiheitsentziehende (Einzel) Maßnahmen“

§1631b II BGB – freiheitsentziehende Maßnahmen

A. Vorbemerkung

Was ist unsere fachliche Antwort auf die zunehmende „Verrechtlichung der Pädagogik“: ein „unbestimmter Rechtsbegriff Kindeswohl“ mit Beliebigkeitsgefahr, ein „Gewaltverbot in der Erziehung“, wobei – Schlagen ausgenommen – der Umfang „entwürdigender Maßnahmen“ unklar ist, nun (ab 2017) ein „Genehmigungsvorbehalt für freiheitsentziehende Maßnahmen“, der von Richtern sehr unterschiedlich angewendet wird? Fangen wir an, die fachliche Legitimation erzieherischen Verhaltens für krisenhafte Situationen des päd. Alltags orientierungshalber zu beschreiben und damit den rechtlichen Erziehungsgrenzen fachliche voranzustellen.

B. Gesetzestext „Freiheitsentziehende Unterbringung und freiheitsentziehende Maßnahmen“

(1) Genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Unterbringung „Eine Unterbringung des Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, bedarf der Genehmigung des Familiengerichts. Die Unterbringung ist zulässig, solange sie zum Wohl des Kindes, insbesondere zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung, erforderlich ist und der Gefahr nicht auf andere Weise, auch nicht durch andere öffentliche Hilfen, begegnet werden kann. Ohne die Genehmigung ist die Unterbringung nur zulässig, wenn mit dem Aufschub Gefahr verbunden ist; die Genehmigung ist unverzüglich nachzuholen.“

(2) Genehmigungspflichtige freiheitsentziehende Maßnahmen „Die Genehmigung des Familiengerichts ist auch erforderlich, wenn dem Kind, das sich in einem Krankenhaus, einem Heim oder einer sonstigen Einrichtung aufhält, durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig in nicht altersgerechter Weise die Freiheit entzogen werden soll. Absatz 1 Satz 2 und 3 gilt entsprechend.

Bisher – nach ca. 4 Jahren des Inkrafttretens des neuen § 1631b II BGB – hat die Jugendhilfe (nach Auskunft zuständiger Amtsrichter) kaum Notiz davon genommen, gibt es kaum gerichtliche Genehmigungsanträge (im Unterschierd z.B. zur Behindertenhilfe), Es muss also leider von einer erheblichen Grauzone rechtsproblematischer Praxis ausgegangen werden. Daher vorab ein Formularantrag, den Einrichtungen der Erziehungshilfe in Anspruch nehmen können: Genehmigung nach 1631b II – Antrag

C. Abgrenzung fachlich begründbarer/ legitimer Freiheitsbeschränkung (FBM) von „freiheitsentziehenden Maßnahmen“ (FEM) der „Gefahrenabwehr“

FEM mit richterlicher Genehmigung, die die Einrichtung initiiert und Sorgeberechtigte beantragen, liegen nach § 1631b II BGB nur bei „nicht altersgerechtem“ Handeln vor. Da nur „altersgerechtes Handeln“ fachlich legitim sein kann, sind FEM stets fachlich illegitim und unterliegen den rechtlichen Anforderungen der „Gefahrenabwehr. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass die Maßnahme über „einen längeren Zeitraum“ (entsprechend der Rechtsprechung länger als 30 Minuten) andauert oder kurzfristiger aber regelmäßig durchgeführt wird.

Folgendes Vorgehen wird empfohlen:

  1. Sobald eine FEM einmalig durchgeführt wird (sie ist nicht planbar), ist die Wiederholungsgefahr i.S. hinreichender Wahrscheinlichkeit prognostisch zu bewerten. Ist Wiederholungsgefahr anzunehmen und ist dabei von einem längeren Zeitraum als 30 Minuten oder – bei kürzerem Zeitraum – von Regelmäßigkeit auszugehen, sind unverzüglich  die Eltern/ Sorgeberechtigten zu informieren, damit sie die richterliche Genehmigung wegen voraussichtlich notwendiger FEM einholen. Der Richter legt zugleich den Zeitraum der Genehmigung fest. Bei Eilbedürftigkeit ist das zuständige Amtsgericht vorab zu informieren.
  2. FEM werden nach § 1631b II BGB unter folgenden Voraussetzungen richterlich genehmigt: sie müssen „zur Abwendung einer erheblichen Selbst- oder Fremdgefährdung erforderlich“ sein und „der Gefahr kann nicht auf andere Weise begegnet werden“.
  3. Stellt sich nach einer Prognose von FBM heraus, dass tatsächlich eine FEM erforderlich wird, ist der Fehler durch eine erneute Prognose zu korrigieren, die dann die Wahrscheinlichkeit weiterer FEM und damit die Notwendigkeit einer richterlichen Genehmigung beinhalten kann.
  4. Das nächtliche Abschließen der Wohnungs-/ Haustür erfordert, um FEM auszuschließen, eine erreichbare Person, die bei Anfrage die Tür öffnen kann. Sie hat dabei freilich die Erfordernisse der Aufsichtspflicht zu beachten.
  5. Anmerkung: bei einer auch nur unter den Voraussetzungen der „Gefahrenabwehr“ rechtlich zulässigen „geschlossenen Unterbringung“ (GU mit richterlicher Genehmigung) besteht die fachliche Herausforderung darin, eine Konzeption mit pädagogischem Zugang zum Kind / Jugendlichen zu entwickeln. GU grenzt sich von FEM dadurch ab, dass es um eine dauerhafte Maßnahme geht, deren Ende nicht absehbar ist.

Beispiele für FBM unter dem Vorbehalt der pädagogischen Indikation des Einzelfalls:

Ein Kind auf das Zimmer schicken, damit es sich dort Gedanken zu einem vorherigen Regelverstoß macht.

Ein Kind festhalten, um ein noch zielführendes pädagogisches Gespräch fortzuführen (bis maximal 30 Minuten).

Beispiele von FEM:

– Einen jungen Menschen länger als 30 Minuten oder regelmäßig ohne Begleitung in einem Zimmer wegschließen

– Abschließen einer Gruppen- oder Haustür länger als 30 Minuten oder regelmäßig; gleiches gilt, wenn am Boden fixiert wird.

In diesem Zusammenhang der Hinweis, dass jeder fachlich nicht begründbare Eingriff in die Fortbewegungsfreiheit eines jungen Menschen als fachlich illegitim einzustufen ist, auch unterhalb einer dreißigminütigen Dauer.  

Entscheidend ist die Abgrenzung Freiheitsbeschränkungg von Freiheitsentzug

D. Wann liegen „freiheitsentziehende Maßnahmen“ vor

Das Bundesverfassungsgericht (2018) legt für Fixierungen eine „ungefähre“ Messlatte von 30 Minuten an: „von einer kurzfristigen Maßnahme ist in der Regel auszugehen, wenn sie absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet“. Ab dieser Grenze läge ein richterlich- genehmigungspflichtiger Freiheitsentzug vor. Im Sinne der Handlungssicherheit wird empfohlen, diese Grenze insgesamt auf die Abgrenzung Freiheitsbeschränkung  – Freiheitsentzug anzuwenden. Hier die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/07/rs20180724_2bvr030915.html

Die Problematik „freiheitsentziehender Maßnahmen“ zeigt sich – neben pädagogischen Erwägungen – in der möglichen Machtspirale:

Die Stufen der Gefahrensituation


II. HANDLUNGSSICHERHEIT IN DER JUGENDHILFE ?

Was ist unsere fachliche Antwort auf die zunehmende „Verrechtlichung der Pädagogik“: ein „unbestimmter Rechtsbegriff Kindeswohl“ mit Beliebigkeitsgefahr, ein „Gewaltverbot in der Erziehung“, wobei – Schlagen ausgenommen – der Umfang „entwürdigender Maßnahmen“ unklar ist, nun ein „Genehmigungsvorbehalt für freiheitsentziehende Maßnahmen“, der von Richtern sehr unterschiedlich angewendet wird? Fangen wir an, die fachliche Legitimation erzieherischen Verhaltens für krisenhafte Situationen des päd. Alltags orientierungshalber zu beschreiben und damit den rechtlichen Erziehungsgrenzen fachliche voranzustellen.

Hauptsächlich in der Jugendhilfe ist mit dem Thema des Freiheitsentzugs eine gewisse Handlungsunsicherheit verbunden, in enger Verknüpfung mit einer überwiegend auf der Basis päd. Haltung geführten „Pro – Contra Diskussion“ (zuletzt Fachtagung 15.9.2015/ Dresden/ „Geschlossene Unterbringung in der Kinder- u. Jugendhilfe Nein !“/ veranstaltet vom Deutschen Kinderschutzbund). Dies führt zu „Drehtüreffekten“ mit aufnahmeverpflichteter stationärer Kinder- u. Jugendpsychiatrie und ist typischerweise nur in der Jugendhilfe anzutreffen. In kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken besteht hingegen kein Fachstreit über die Eignung geschlossener Stationen, legt doch der Gesetzgeber in speziellen Unterbringungsgesetzen eine rechtliche Basis fest (s.g. „Zwangsthe- rapie“).

Zum Thema „Handlungssicherheit“ ein Beispiel von vielen:

Ein Landesjugendamt „bietet an“, dass die Einrichtung … „wenn die Eltern/ Sorgeberechtigten und das Kind zustimmen, bei abgeschlossener Eingangstür Kinder ohne Gerichtsbeschluss betreuen dürfe“. Es meint: „wenn ein Kind jederzeit rausgehen könne und ihm ein/e MitarbeiterIn aufschließt, ist das rechtens.“

Entscheidend ist die Abgrenzung zwischen Freiheitsbeschränkung und richterlich genehmigungspflichtigem Freiheitsentzug (siehe bereits oben Ziffer I. C)

1. Bewertung nach dem „Prüfschema zulässige Macht“ / nachträgliches Bewerten einer schwierigen Situation

2. Bewertung nach dem „Prüfschema zulässige Macht“ / Bewerten einer vorhersehbaren schwierigen Situation

Freiheitsbeschränkungen sind in den „Prüfschemata zulässige Macht“ im Rahmen der dortigen ersten Frage i.d.R. pädagogisch begründbar: sie sind geeignet, ein pädagogisches Ziel zu verfolgen. Sind also Freiheitsbeschränkungen pädagogisch begründbar, sind insoweit insbesondere pädagogische Vereinbarungen möglich und sinnvoll. Ausnahmsweise ist aber bei Freiheitsbeschränkungen eine pädagogische Eignung auszuschließen, z.B. im vorbeschriebenen Beispiel der verschlossenen Eingangstür mit der Möglichkeit des „Öffnens auf Nachfrage“. In solchen Fällen kann  beim jungen Menschen ein Isolationsgefühl entstehen, das zur Erreichung pädagogischer Ziele ungeeignet ist. Pädagogisch betrachtet sind also die Wirkungen des Abschlusses über Tag problematisch (Bemerkung: ein Landesjugendamt sollte nicht nur über die rechtliche Komponente beraten). Wie gesagt, solche Freiheitsbeschränkung kann – auf die Sicht des Kindes/Jug. kommt es ja vorrangig an – als „Isolation gegenüber der Außenwelt“ empfunden werden. Nach dem Prüfschema (Frage 1) ist es dann nicht darstellbar, den Türverschluss als zielführende pädagogische Maßnahme einzustufen. Es würde sich vielmehr – wie auch bei Freiheitsentzug – um eine nur unter den Voraussetzungen der Gefahrenabwehr zulässige Maßnahme mit richterlicher Genehmigung handeln (§ 1631b BGB). Der Vorschlag des Landesjugendamtes erscheint mithin insoweit fachlich nicht begründbar und im Ergebnis auch rechtswidrig, es sei denn, es liegt im Einzelfall eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vor, die von dem Kind/ der/m Jugendliche/n ausgeht.

Da Freiheitsentzug in “geschlossenen Gruppen” pädagogisch nicht begründbar ist, sollte die seit langem andauerende “PRO – CONTRA – Diskussion” als überflüssig betrachtet werden: Freiheitsentzug ist ein rechtliches Instrument der Gefahrenabwehr, bezogen auf Eigen- und Fremdgefährdung.

Die die entscheidende Frage lautet nicht, ob Freiheitsentzug pädagogisch verantwortbar ist, vielmehr sind folgende Fragen zu stellen:

  • Welches pädagogisches Konzept ist unter den Rahmenbedingungen des Freiheitsentzugs geeignet?
  • Wie hat sich ein Team unter den Bedingungen des Freiheitsentzugs fachlich und organisatorisch aufzustellen, um seine pädagogische Verantwortung wahrzunehmen?

III. FREIHEITSENTZUG – JUGENDHILFE- / EINGLIEDERUNGSHILFEPROFIL

Im Projekt Pädagogik und Recht wird die Position vertreten, dass – neben den rechtlichen Anforderungen des § 1631b BGB – der Freiheitsentzug in der Jugendhilfe und Eingliederungshilfe behinderter Kinder/ Jugendlicher ein spezielles Profil benötigt, das von Fachverbänden formuliert wird.

Das Profil sollte umfassen:

  • eine Konkretisierung der Voraussetzungen des § 1631b BGB
  • eine Altersuntergrenze für Freiheitsentzug
  • Regelungen zum Inhalt der Kindesrechte in Durchführung des Freiheitsentzugs – solche sind im Jugendstrafvollzug gesetzlich geregelt, nicht jedoch in der Jugendhilfe bzw. Eingliederungshilfe.

Das Profil würde die „Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug“ ergänzen.

Regeln der Vereinten Nationen

Das Projekt unterbreitet - insbesondere angesichts bestehender Gesetzeslücken - folgenden, noch auszuformulierenden Vorschlag
  • Freiheitsentzug ist ein Instrument, um Eigen- oder Fremdgefährdungen der/s Minderjährigen zu begegnen, eine pädagogische Indikation ist ausgeschlossen. Aufgrund des Aufsichtsrahmens bedarf es aber eines besonderen pädagogischen Konzepts.
  • Freiheitsentzug kommt nur bei Vorliegen einer Lebens- oder erheblichen Gesundheitsgefahr in Betracht.
  • Die insbesondere im Hinblick auf richterliche Genehmigung erhebliche Abgrenzung zur pädagogisch indizierten Freiheitsbeschränkung („Menschen statt Mauern“) ist wie folgt umzusetzen: Freiheitsbeschränkung ist das Erschweren oder der kurzfristige (maximal wenige Stunden) Ausschluss der Bewegungsfreiheit, Freiheitsentzug der längerfristige.
  • Die Altersuntergrenze für Freiheitsentzug sollte 12 Jahre sein, keinesfalls kommt Freiheitsentzug unter 10 Jahren in Betracht.
  • In der Durchführung des Freiheitsentzugs sind die Inhalte der Kindesrechte zu definieren.

IV. FREIHEITSENTZUG – REGELN DER VEREINTEN NATIONEN

Zum Auftrag der Regeln der Vereinten Nationen zum Schutz von Jugendlichen unter Freiheitsentzug, eine Altersuntergrenze des Freiheitsentzugs gesetzlich zu definieren, ist Folgendes festzuhalten: mangels solcher Regelung in Deutschland sollte bei Kindern, die das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, Erziehung unter freiheitsentziehenden Bedingungen nicht praktiziert werden. Bei Kindern vor Vollendung des 10. Lebensjahres ist Freiheitsentzug auszuschließen. Ausgenommen hiervon ist auf Grund von Krankheit oder Behinderung individuell praktizierter Freiheitsentzug, z.B. in der Kinder – und Jugendpsychiatrie oder in Form von Fixierungen bei Mehrfachbehinderung in Einrichtungen der Eingliederungshilfe. In diesen Fällen sind Eigen- oder Fremdgefährdungen altersunabhängig relevant. Ansonsten ist bei Kindern unter zehn Jahren von einem überschaubaren Eigen- bzw. Fremdgefährdungspotential auszugehen, dem durchaus mittels anderer Aufsichtsinstrumente als Freiheitsentzug begegnet werden kann, z.B. durch freiheitsbeschränkende pädagogische Settings.


V. „RHEINISCHES MODELL“

Hier noch das so genannte Rheinisches Modell des Landesjugendamtes Rheinland mit Fachposition und Mindeststandards für eine Betriebserlaubnis zur Kenntnis und zum Ausdrucken, in Vorlauf des Projekts Pädagogik und Recht in den Jahren 2005 bis 2007 entscheidend gestaltet.

Das „Rheinische Modell“wurde am 11.11.2005 einstimmig im Landschaftsausschuss des Landschaftsverbandes Rheinland beschlossen. Entscheidend hat zu der diesem Beschluss zugrunde liegenden einheitlichen politischen Meinungsbildung die Idee „Pädagogik und Recht“ beigetragen. Die Unterscheidung zwischen primärem pädagogischen Auftrag und dem zivilrechtlichem Auftrag der Aufsicht/ Gefahrenabwehr hat ausschließlich haltungsorientierte politische Debatten erspart. Die Zuordnung des Freiheitsentzugs als Instrument der Abwehr von Eigen- oder Fremdgefahren, die von der/m Minderjährigen ausgehen, hat also zu einer Versachlichung geführt.

Neben dem „Rheinischen Modell“ als Mindeststandards zur Betriebserlaubnis nach § 45 SGB VIII ist auf die Fachposition des Landesjugendamtes hinzuweisen, die der Landesjugendhilfeausschuss auf der Grundlage eines Expertenhearings am 13.3.2007 beschlossen hat, ebenfalls einstimmig.

Zum Abschluss noch eine DJI- Studie zum Thema „Freiheitsentzug und dessen Wirksamkeit“  DJi.